Die Stufen von Evin

Veröffentlicht auf Persian Umpires Blog am 20. März 2010
Quelle (Englisch): http://www.persianumpire.com/2010/03/20/the-steps-of-evin/
Deutsche Übersetzung: Julia, bei Weiterveröffentlichung bitte Link angeben.

Leseempfehlung: Die Vorgeschichte zu diesem Bericht

Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich dieser Tage vor dem Evin-Gefängnis auf die Freilassung eines Freundes warten würde, der am Jahrestag der Revolution verhaftet wurde, weil er ein grünes Armband in seiner Tasche hatte, hätte ich ihn freundlich zur Hölle geschickt. Iran war zwar ein merkwürdiger Ort, aber so merkwürdig auch wieder nicht.

Da war ich nun, vor dem Evin-Gefängnis, stand in der Kälte und dachte, wie dumm es von ihm gewesen war, etwas so gefährliches wie ein grünes Armband bei sich zu haben, und dann, wie dumm es von mir war, zu denken, wie dumm es von ihm war. Aber das ist Iran. Etwas so wertloses wie die Flusen in deiner Tasche können das Zeug dazu haben, das Regime zu stürzen.

Den Abend des 22. Bahman brachten wir damit zu, herauszufinden, wo unser Freund – und Myriaden anderer – hingebracht worden war. Angesichts der Umstände und der Anzahl der Verhaftungen an diesem Tag konnte er in jedem Teheraner Gefängnis sein. Unser einziger Trost war, dass er von der Polizei verhaftet wurde und nicht von den Basijis oder den Revolutionsgarden. Auch wenn die Polizei in der Bevölkerung nicht gerade beliebt ist, ist sie doch zumindest annähernd gesetzestreu in ihren Vorgehensweisen, was die Chancen erhöhte, dass mein Freund tatsächlich in einem Gefängnis sein könnte und nicht in irgendeiner obskuren Moschee. Sein Verhaftungsgrund war so unsinnig, dass ich sogar hoffte, dass er am selben Abend freigelassen werden würde.

Einige von uns trafen sich am Abend bei jemandem zu Hause, telefonierten und versuchten, Informationen zu bekommen, während andere die Gefängnisse abklapperten und die Wachen fragten, wohin die Verhafteten des Tages gebracht worden waren. Das brachte nicht viel, denn die Behörden in Iran neigen dazu, Anfragen zu ignorieren oder falsche Informationen zu geben. Aber spät abends erfuhren wir durch einen Bekannten eines Bekannten, der jemanden kannte, der für die Teheraner Polizei arbeitet, dass der Ort der Verhaftung unseres Freundes darauf hindeutete, dass er wahrscheinlich im Gefängnis xy sei. Wir waren nicht sicher, wie verlässlich die Information war, aber es war besser als nichts. Vor dem nächsten Morgen konnten wir nicht viel tun, also gingen wir auseinander.

Am nächsten Tag besuchte ich seine Familie. Sie kannten die Geschichte – wir hatten ihnen am Vortag alles erzählt – aber wir mussten uns zusammensetzen und die nächsten Schritte besprechen. Vormittags rief ein Freund an, der gehört hatte, dass die meisten Verhafteten vom 22. Bahman am Morgen für die weiteren Procedere nach Evin gebracht worden waren. „Evin?“ fragte ich. „Ja, Evin“, sagte er, aber er war nicht sicher. Er hatte am Morgen vor dem Gefängnis xy gestanden und gesehen, wie eine Reihe von Bussen herauskam, und war ihnen bis nach Evin gefolgt. Andere Familien, die dort warteten, hatten dasselbe getan.

Abgesehen davon, dass ich mir Sorgen machte, hasste ich es, im Dunkeln zu tappen und nicht einmal die einfachsten Tatsachen zu kennen. Mein Freund hätte in einem dieser Busse sein können, oder auch nicht. Wir waren nicht einmal sicher, ob er in der Nacht vorher wirklich in diesem Gefängnis xy gewesen war. Was nun? Sollten wir Evin stürmen?

„Waren Leute in den Bussen, oder waren sie leer?“ fragte ich. „Woher soll ich das wissen? Sie hatten Gardinen, und ich konnte nicht hineinsehen. Der Wachmann sagte, das wären die Leute vom 22. Bahman. Er sagte, alle Leute vom 22. Bahman würden nach Evin gebracht werden.“ Das half auch nicht besonders. Aber andere Familien waren nach Evin gefahren, also fuhren wir auch hin. Ich schnappte mir einen Freund, und wir machten uns auf den Weg.

Wir parkten irgendwo in der Nähe des Gefängnisses und gingen dann langsam und vorsichtig Richtung Haupteingang. Dabei versuchten wir, all die Kameras zu finden, die in der Gegend installiert worden sein sollen, und planten unseren Fluchtweg für den Fall, dass wir von den Schlägern der Regierung angegriffen werden würden. Aber wir trafen weder auf Kameras, noch auf Schläger. Was wir stattdessen vorfanden, war eine riesige Menschenmenge. Einige hatten sich auf den obersten Stufen der Treppe versammelt, die zu der kleinen Tür des Gefängnisses führte, neben dem Haupteingang, andere waren unten auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis, redeten, rauchten, lachten, fragten, machten sich Sorgen und trösteten.

Wir waren etwa zehn Minuten dort, als ein junger Mann mir auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich um. Er sah sehr müde aus, und neben ihm stand ein anderer müde aussehender junger Mann. Sie waren Freunde. „Können wir bitte ein paar Zigaretten von Ihnen haben?“ fragte er. „Klar“. Ich holte meine Packung hervor. „Danke, Mann, wir haben seit fast zwei Tagen nicht mehr geraucht“, sagte er. „Warum? Habt ihr aufgehört?“ fragte ich. „Nein, wir sind gerade freigelassen worden.“

„Freigelassen?!“
„Ja, sie haben uns gestern Morgen verhaftet.“
„Wow… Hut ab! Ihr seht gut aus. Ich bin überrascht.“
„Es war keine große Sache.“
„Wo seid ihr verhaftet worden?“
„In der Nähe der Teheran-Universität. Sie haben so viele verhaftet.“
„Wie hat man euch behandelt?“
„Es war okay. Die letzte Nacht war allerdings schlimm.“
„Wo wart ihr?“
„Im Enghelab-Gefängnis. Wir haben die Nacht dort verbracht, und heute Morgen haben sie uns hergebracht wegen der weiteren Bearbeitung.“
„Haben sie euch geschlagen?“
„Eigentlich nicht. Nur die üblichen Schläge und Tritte. Ein paar von ihnen waren nett. Aber man kennt ja die Gefängnisse. Sie haben uns im Hof in der Kälte stehen lassen, ungefähr bis neun Uhr, und als sie uns dann hineingelassen haben, waren wir mit ungefähr 50 Leuten in einer kleinen, engen Zelle. Sie haben uns ganz wenig Wasser gegeben, und einmal bekamen wir etwas zu essen. Sie haben einen Topf mit gekochten Eiern und einen Sack mit gebackenen Kartoffeln in die Zelle geworfen. Geschlafen habe ich mit dem Fuß von irgendjemandem in meinem Mund.“

Was der junge Mann mit „üblichen Schlägen und Tritten“ meint, ist der normale Machtmissbrauch, den Iraner in Positionen mit Autorität normalerweise an den Tag legen. Da wir in Iran aufgewachsen sind, haben wir schon in der Schule reichlich davon mitbekommen, wenn unserer Lehrer uns schlugen, weil wir unsere Gedichte nicht auswändig konnten, oder wenn wir verhaftet wurden, weil wir kurze Ärmel trugen oder auf der Straße mit Mädchen gesprochen hatten. Sie haben einen in der Hand, und wenn ein Wachmann an dir vorbeigeht und ihm danach ist, dir einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen, nur weil er es darf, dann tut er es.

„Es war also nicht schlimm?“ fragte ich.
„Nein. Die, die uns schlecht behandelt haben, waren meistens die jungen niedrigrangigen Bastarde aus den Provinzen. Die haben sich nur einen schönen Tag gemacht. Ein paar da drinnen waren auch nett, vor allem die Höherrangigen. Der Richter hier in Evin war auch nett. Als einer sich beschwerte, dass man uns seit gestern nicht erlaubt hatte zu pinkeln, schrie er die Wachen an, dass man so nicht mit Menschen umzugehen habe. Also brachten sie uns nach draußen in den Hof und sagten, wir könnten überall hinpinkeln. Können Sie sich das vorstellen? Wir haben Evin angepinkelt. Ich bin stolz darauf.“
„Und warum seid ihr hier? Ihr müsst es doch eilig haben, nach Hause zu kommen.“
„Ja, ich warte, dass meine Frau mich abholt. Wir durften nicht telefonieren. Ich habe mir von jemandem ein Handy geliehen, um ihr zu sagen, dass ich hier bin. Sie kommt.“

Wir rauchten und unterhielten uns. Sie erzählten mir, dass die Leute, die am 22. Bahman wahllos verhaftet worden waren, als „Pishgiri“ (Prävention) eingestuft wurden. Weil die „Verbrechen“ so lächerlich waren, rechneten sie damit, dass die meisten bald freigelassen werden würden. „Da drin ist es auch verrückt. Sie haben so viele Leute verhaftet, dass es wahrscheinlich keinen Platz mehr gibt, und die Gefängnisse sind schon voll, also lassen sie alle schnell wieder frei“, sagte einer von ihnen. Sie erzählten auch, dass ihre Augen die ganze Zeit verbunden waren, aber sie konnten durch Lücken an den Seiten etwas sehen.

In der Zeit, die ich vor dem Evin-Gefängnis verbrachte, wurden die Gefangenen in Gruppen von drei, vier, fünf oder sechs, oder mehr freigelassen, fast halbstündlich, ohne ihre persönlichen Habseligkeiten, ohne ihre Familien angerufen zu haben. Sie kamen aus der kleinen Tür, rieben sich die Augen und blinzelten, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten, und hielten dann Ausschau, ob irgendjemand auf sie wartete. Wenn jemand rauskam, johlten und applaudierten die Umstehenden, klopften ihnen auf die Schultern, während sie die Treppe herunterkamen, und sagten, sie seien Helden. Einige der Freigelassenen machten das Siegeszeichen und riefen „Sieg!“ Die Leute boten ihnen Essen, Wasser, Süßigkeiten und Zigaretten an. Ich lernte, all diese Dinge dabeizuhaben, aber Zigaretten waren am gefragtesten. Fast jedes Mal, wenn ich fragte, ob sie Hunger oder Durst hätten, war die Antwort: „Zigaretten… Mann… Zigaretten.“

In diesen Situationen bekommt man die verlässlichsten Informationen von den Familien, die vor dem Gefängnis warten, oder von den Gefangenen selbst. Jeder freigelassene Gefangene nahm sich ein paar Minuten Zeit, um die Fragen der Leute zu beantworten, in denen es meistens darum ging, ob sie ihre Angehörigen gesehen hätten oder nicht, und wenn ja, wie es ihnen gehe und welche Akte man im Gefängnis für sie zusammenbasteln würde. Einige mussten telefonieren und warten, bis sie jemand abholt, und in diesen Fällen konnten wir länger reden und viel erfahren. Es gab auch welche, die aus den Provinzen kamen und ihre Familien nicht erreichten. Sie waren ohne Geld in einer Gegend, die sie nicht kannten, aber die Leute, die nach Hause fuhren, boten ihnen Mitfahrgelegenheiten an.

Die meisten, die in diesen Tagen freigelassen wurden, waren vom 22. Bahman. Aber wir sahen auch andere, manche von Ashura, manche waren vor vielen Monaten verhaftet worden. Ich erinnere mich, wie ein Mann Anfang 30 herauskam, und wir umringten ihn. Er war ruhig, lächelte, seine Augen waren leicht gerötet. Die Leute fingen an, ihre üblichen Fragen zu stellen. Er sagte, er würde niemanden kennen. Er war zwei Monate lang in Einzelhaft gewesen und kannte nur den Namen seines Mitgefangenen. Einige entschuldigten sich bei ihm für die Belästigung, er müsse völlig am Ende sein. „Gar nicht. Es war kein Spaß, aber es war auch keine große Sache. Ich weiß jetzt, dass ich es wieder tun kann“, sagte er, immer noch lächelnd. Bewundernd sah ich ihm nach, als seine Familie ihn umringte und mit ihm wegging, lachend und weinend.

Am ersten Tag erkundigte ich mich auch nach meinem Freund. Einige sagten, sein Name käme ihnen bekannt vor, andere waren nicht sicher. Spät am Nachmittag wurde eine Frau freigelassen, die das Einwickelpapier einer Tafel Schokolade herausgeschmuggelt hatte. Etwa 20 Leute hatten ihre Namen und Kontaktdaten ihrer Verwandten darauf geschrieben. Das war eine gute Methode. Freigelassene riefen die Nummern auf ihren Listen an und informierten die Familien. Der Name meines Freundes war auf der Liste. Bingo! Er war drinnen.

An diesem Tag kamen ungefähr 100 Gefangene heraus, Männer, Frauen, Junge und Alte. Ich weiß noch, wie sie eine alte Frau freiließen, sie war sicher über siebzig. Sie trug einen schwarzen Tschador und hatte Schwierigkeiten, die Treppe hinunter zu kommen. Ein paar Leute hielten ihre Hände und halfen ihr hinunter, alle anderen sahen schweigend zu. Ich glaube, wir alle waren still, weil wir nicht glauben konnten, dass sie sogar jemanden wie diese Frau verhaftet hatten. Als sie die letzte Stufe erreichte, blickte sie auf und lächelte. Das war der Moment, in dem die Menge explodierte.

Ungefähr gegen halb zwölf teilte ein Wachmann mit, dass es in dieser Nacht keine Freilassungen mehr geben würde. Wir wussten, dass unser Freund drinnen war, dass es vorwärts ging, und dass es Erleichterung gab. Wir wussten auch, dass wir jeden Tag wieder kommen würden, egal, wie lange es dauern würde.

Alles, was ich vor dem Gefängnis erlebte, war das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte. Freunde und Familien, die draußen darauf warteten, etwas über ihre Angehörigen zu erfahren, waren bei bester Laune. Sie standen in Gruppen zusammen, tauschten Informationen aus und sprachen offen über Politik. Sie erzählten ihre eigenen Geschichten, die sie bei dieser oder jener Demonstration erlebt hatten.

Ein junges Mädchen erzählte uns, dass die Basijis am 22. Bahman ihr Auto angehalten und sie durchsucht hatten. Sie fanden in ihrer Handtasche einen USB-Stick, und einer der Basijis erstattete seinem „Haj Agha“, seinem Vorgesetzten, aufgeregt darüber Bericht. Als der Haj Agha mit einem Laptop kam, schlug er ihrem Mann ins Gesicht und fragte das Mädchen, was auf dem USB-Stick sei. Das Mädchen sagte, es seien zwei Videoberichte von BBC und VOA über das Begräbnis von Ayatollah Montazeri auf dem Stick. „Ist das wahr?“ fragte Haj Agha. „Hören Sie, wenn wir Angst vor Ihnen hätten, hätte ich gesagt, dass es Familienfotos sind, oder?“ antwortete sie. Der Haj Agha fragte, ob er sich den Inhalt ansehen könne. Sie sagte, wenn er meine, dass das, was sie da täten, gesetzmäßig sei, dann hätte sie kein Problem damit. „Aber lassen Sie mich Ihnen eines sagen: Was Ihre Männer getan haben, nämlich die Handtasche einer Dame zu durchsuchen, ist nicht nur illegal, sondern auch unethisch,“ sagte sie zu ihm. Haj Agha entschied sich, den USB-Stick nicht an sein Laptop anzuschließen und sagte, sie könnten weiter fahren. Außerdem bat er ihren Mann, ihm zu vergeben. Sie taten es, zögernd, aber sie sagten zu ihm, dass es eine Nation unschuldiger Menschen gebe, die ihm vielleicht nicht vergeben würden. „Sie hat mir das Leben gerettet“, fügte ihr Mann am Ende hinzu.

Einige waren schon seit geraumer Zeit hier. Ich erinnere mich an zwei Frauen Ende 40, die eine besorgte Familie mit Scherzen und Lachen trösteten. „Ich komme seit 45 Tagen jeden Abend hierher“, sagte eine von ihnen. Die andere drehte sich zu ihr um und sagte: „Schwester, ich bin schon länger hier als du, weißt du noch?“

Viele der Freigelassenen kamen am nächsten Tag wieder und warteten auf die Freilassung ihrer Freunde oder Angehörigen. Mit der Zeit wurden die Gesichter vertraut, und man lernte die Leute kennen. Die Stufen von Evin waren ein freundlicher und herzerwärmender Ort. Ich traf sogar Bekannte. Und immer begrüßten wir uns mit „Oh nein, du auch?!“

Genauso ging es den Gefangenen. In Evin wurden Freundschaften geschlossen, und ich weiß von einigen, dass sie nach ihrer Freilassung Gruppen gebildet haben, die sich einmal in der Woche treffen, um Erinnerungen auszutauschen und es sich gutgehen zu lassen. Ich sprach mit zwei jungen Männern, die mir erzählten, dass sie sich zum ersten Mal am 22. Bahman getroffen hatten, als sie mit einigen anderen zusammen vorübergehend in ein Geschäft gebracht wurden, wo sie von der Polizei geschlagen und getreten wurden, während sie auf die Transporter warteten. Sie sagten, sie hätten Glück gehabt. „In der Haftanstalt kamen immer wieder IRGC-Wachen vorbei und erzählten uns allen, wie viel Glück wir gehabt hätten, dass wir von der Polizei verhaftet wurden“, erzählte einer. „Sie sagten, wenn ihr uns in die Hände gefallen wärt, könntet ihr jetzt nicht mehr aufstehen.“

Als die beiden sich verabschiedeten, schlug der eine dem anderen auf die Schulter und sagte: „Ok Abbas, ich muss los. Bis zum nächsten Mal.“ Alle lachten.

Die Organisation und die Procedere in Evin waren zuweilen lächerlich. Einmal hörten wir von einer Frau, die gerade freigelassen worden war, dass mehrere Gefangene hinter ihr waren, die wieder zurückgebracht und für die Nacht eingesperrt wurden. Wir fragten nach dem Gund, und sie sagte: „Ihre Entlassungspapiere waren schon unterschrieben, und sie konnten gehen. Sie kamen sogar mit mir bis an die Tür, aber plötzlich brach unter den Wachen ein Streit aus, und sie wurden wieder zurückgebracht.“

„Was meinen Sie damit – zwischen den Wachen brach Streit aus?“ fragte ich.
„Es herrscht Chaos da drinnen. Einer fing an zu schreien und fragte, warum diese Leute freigelassen werden sollen. Ein anderer schrie zurück, der und der hätte das angeordnet. Dann kam der neue Richter, der gerade erst seine Schicht angetreten hatte, und sagte, sie müssten alle wieder zurück in die Zellen, bis er sich ihre Akten angesehen hat.“

Viele, die aus dem Gefängnis herauskamen, sagten, wir müssten die Frauen drinnen einmal sehen. „Sie sind Löwinnen“, sagten sie. Die Frauen seien fordernd, aggressiv und kampflustig, die Umstände machten ihnen nicht viel aus, und sie redeten und lachten so laut sie könnten. Sie machten sich sogar über die Wachen lustig und ihnen das Leben schwer. Ein Freigelassener erzählte mir, wie er mit ein paar anderen Männern still und mit gesenktem Kopf im Gang gesessen hatte. Ein Wachmann kam herein und sagte lachend zu ihnen: „Ihr solltet euch schämen, hier so zu sitzen. Geht und lernt von der Frauen, sie machen uns wahnsinnig!“

Eines Abends kam ein Gefangener heraus, der uns erzählte, dass die Frauen ihre Kopftücher sogar in Evin so nachlässig trugen, dass einer der Richter ihre Freilassung stoppte und anordnete, dass sie über Nacht in die Haftanstalt Vozara verlegt werden sollten, damit man ihnen eine Lehre erteilt. Ungefähr eine halbe Stunde später sahen wir einen Bus vorfahren, der durch das Haupttor ins Innere von Evin verschwand. Die Vorhänge waren zugezogen, und wir konnten nichts erkennen, aber wir waren sicher, dass er die Frauen abholen sollte. Eine weitere halbe Stunde später kam der Bus wieder heraus, immer noch mit zugezogenen Vorhängen. Er fuhr ein paar Meter und blieb an der Straße stehen. Vorsichtig näherten wir uns dem Bus, um zu sehen, ob wir vielleicht einen Blick ins Innere erhaschen könnten. Die armen Frauen taten uns Leid. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und winkte uns zu, wir sollten näherkommen. Wir wunderten uns ein bisschen darüber. Einige machten kehrt, als der Busfahrer rief „Kommt her, ich sage euch was. Keine Angst!“ Er erzählte uns, er habe den Auftrag gehabt, etwa fünfzig Personen nach Vozara zu bringen, aber sie hatten ihm niemanden übergeben. „Ich fahre leer zurück. Schaut selbst!“ Wir sahen durch sein Fenster – der Bus war leer. „Ich fahre leer zurück“, sagte er wieder und lächelte dabei. „Sagt allen, sie sollen sich keine Sorgen machen. Alle werden freigelassen“, sagte er und fuhr. Sein Verhalten war für einen Gefängnisbusfahrer ziemlich surreal, fand ich, aber so ist Iran eben.

Ich weiß nicht, wie viele Leute am 22. Bahman verhaftet wurden, aber nach dem zu urteilen, was die Freigelassenen sagten, müssen es Tausende gewesen sein. Einige hatten von den Wachen sogar gehört, dass die Polizei, die Revolutionsgarden und die Basijis die Anordnung erhalten hatten, jeden zu verhaften, dessen Gesicht ihnen nicht passte. Sie hatten sogar verhaftete Ahmadinejad-Anhänger in Evin gesehen.

Sie wurden in vorläufige Haftanstalten gebracht, und nachmittags wurden die Formalitäten erledigt. Für jeden Verhafteten wurde eine Akte mit relevanten Beweisstücken angelegt. An einige waren grüne Bänder angeheftet, an andere Plakate und Flyer. Großformatiges Beweismaterial wie Flaggen oder Messer wurden neben der Akte aufbewahrt.

Es gab mehrere Reihen mit Tischen, hinter denen die Befrager saßen, und jeder Verhaftete wurde schnell verhört und dann an einen Richter weitergereicht, der über die jeweilige Akte entschied. Das Ganze dauerte zwischen fünf und zehn Minuten. Dann wurden sie nach Evin gebracht, wo sie eine ähnliche Prozedur durchliefen. Sie wurden gefragt, ob sie eine E-Mail-Adresse hätten oder eine Webseite, ob sie politisch wären, ob sie im Ausland gelebt oder Verwandte in Iran hätten. Ihre Gesichter wurden mit Fotos von den Ashura-Demonstrationen verglichen, und wenn sie übereinstimmten, wurden sie weggebracht. Nach allem, was ich gehört habe, gab es zwei solcher Fälle. Die Gefangenen, die mir das erzählten, waren sich einig darüber, dass die armen Menschen kaum Ähnlichkeit mit denen auf den Fotos hatten, aber sie wurden trotzdem weggebracht.

Eine der seltsamsten Geschichten, die ich von viele Gefangenen hörte, war die über einen lustigen Fragebogen, den sie im Verhör ausfüllen mussten. Ich habe niemanden getroffen, der auch nur eine Frage falsch beantwortete. Einige der Fragen lauteten:

Für wen haben Sie bei der Wahl gestimmt?
a) Ahmadinejad c) Moussavi d) Karroubi e) Rezai

Glauben Sie, dass es Wahlbetrug gegeben hat?
a) Ja b) Nein

Wer ist Ihrer Meinung nach verantwortlich für die Aufstände?
a) Der oberste Führer b) Ahmadinejad c) Moussavi d) Karroubi e) Provokateure

Wer würde Ihrer Meinung nach gewinnen, wenn die Wahl wiederholt wird?
a) Ahmadinejad c) Moussavi d) Karroubi e) Rezai

Wer ist Schuld daran, dass Sie hier sind?
a) Moussavi b) Ahmadinejad c) Ich d) Das Regime.

Wieviele Anhänger hat die grüne Bewegung Ihrer Meinung nach?
a) 20.000 b) 50,000 c) 100.000 d) 150.000

Viele der Häftlinge, mit denen ich sprach, glauben, dass die meisten Richter und Wachen, die ihnen in der Haft begegneten, grün waren. Sie konnten es nur nicht zeigen. „Man merkte es daran, wie sie einen ansahen“, sagten sie. Einer erzählte mir, dass er sah, wie ein Richter Beweismaterial für einen der Fälle wegwarf. Wir sprachen mit einem Mädchen, das mit einem Stapel grüner T-Shirts verhaftet worden war und fest damit rechnete, lange in Evin bleiben zumüssen. Sie wurde freigelassen, weil der Richter die T-Shirts weggeworfen hatte. Ein Mann war mit einem Plakat von Karroubi verhaftet worden. Der Richter hatte einen Blick darauf geworfen, es zerknüllt und in einen Mülleimer geworfen mit den Worten: „Das brauchen wir nicht“.

Einige berichteten, dass die Richter und Gefängniswärter müde und verärgert waren. Sie mussten wegen lächerlicher Anlässe doppelte Schichten leisten, und das passte ihnen nicht. Ein Gefangener erzählte uns, dass einige Wachleute sie gebeten hatten, nicht mehr auf die Straße zu gehen.

Ein Mann, der an Ashura verhaftet worden war, erzählte mir, dass die Polizei offensichtlich sehr darauf achtete, bei der Bearbeitung der Fälle das Gesetz zu beachten. Die Gefangenen wurden ca. 24 Stunden lang in einer vorläufigen Haftanstalt festgehalten, dann mussten sie ein Formular unterschreiben, das die Behörden ermächtigte, sie nach Evin zu bringen und dort dreißig Tage lang festzuhalten. Als ich fragte, warum er unterschrieben habe, sagte er, die Bedingungen in der Haftanstalt seien so schlecht gewesen, dass die meisten keine weitere Nacht dort verbringen wollten. Sie hatten das Gefühl, sie könnten einfach verschwinden und niemand würde jemals etwas über ihr Schicksal erfahren, also sei es besser, etwas zu unterschreiben und in Evin registriert zu werden, dann gebe es wenigstens einen Nachweis ihrer Inhaftierung.

Schließlich und endlich erwies sich einer der Leute, die nach draußen kamen, als mein Freund. Als er herauskam, blinzelte er und musste sich an das Licht gewöhnen, genau wie alle anderen. Wir umarmten uns, ich vergoss ein paar Tränen, er beantwortete die Fragen der Leute, und dann brachten wir ihn zum Auto. Auf dem Weg nach draußen hatte ein Wachmann ihm gesagt, er müsse aufpassen, sein Telefon würde vierzig Tage lang überwacht werden.

Während mein Freund Fragen beantwortete, fragte uns ein junger Mann – vielleicht 18 oder 19 Jahre alt – der ebenfalls freigelassen worden war, ob wir ihm ein Telefon ausleihen könnten, damit er seine Familie anrufen könne. Wir gaben ihm eins. Niemand nahm ab. Er kannte sich nicht aus in der Gegend und fragte mich, wo er ein Taxi finden könne. „Hier in der Nähe gibt es keine Taxis, aber ich kann dich zu einem Taxi fahren“, sagte ich.

„Aber du hast gar kein Geld. Wo musst du denn hin?“ fragte ich ihn.
„Nach Varamin.“
„Das ist ja außerhalb von Teheran. Ich kann dich hinfahren.“
„Nein, ist schon in Ordnung, ich kann auch die Metro nehmen, das geht schon.“
„Kein Problem. Lass uns fahren.“

Bis zur Metro-Station war es weit, und im Auto fragte ich ihn nach seiner Geschichte. Er war in der Nähe von Sadeghiyeh verhaftet worden, und er hatte ein Messer bei sich gehabt.

„Was für ein Messer?“ fragte ich.
„Ein großes. In dem Raum mit den Beweismitteln fragten alle, die es sahen, wem es gehört, und ich musste meine Hand heben. Sie nickten alle und sagten, ich hätte ein Problem, das so groß ist wie das Messer.“
„Das Tragen eines Messers und das Tragen eines Armbands haben also in unserem Justizsystem das gleiche Gewicht.“
„Ich bin viel geschlagen worden, und ich dachte, sie lassen mich nicht raus, aber irgendwie haben sie es doch getan.“

Als wir an der Metro-Station ankamen, gaben wir ihm etwas Geld, damit er seine Fahrt nach Hause bezahlen konnte. Er bedankte sich bei allen und sagte, er schäme sich, das Geld anzunehmen. Ich stieg aus und umarmte ihn.

„Sei in Zukunft vorsichtiger… und nimm nie wieder eine Waffe mit. Dieses Mal hattest du Glück. Denk daran: Friedlich bleiben.“

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Leseempfehlung: Ein Ort namens Evin von Fariba Amini.

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