Veröffentlicht bei Green Voice of Freedom am 5. Mai 2010
Quelle (Englisch): http://en.irangreenvoice.com/article/2010/may/05/1812
Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von der Übersetzerin
In einem Interview mit der Organisation International Campaign for Human Rights in Iran [ICHRI] spricht Ali Kantoori über die hygienische und medizinische Situation im Evin-Gefängnis. Der Menschenrechtsaktivist, der mehrere Monate in den Sicherheitstrakten der Gefängnisse Evin und Ghezel Hesar inhaftiert war, berichtet über die Erfahrungen, die er in den beiden Haftanstalten gemacht hat. Er beschreibt ein als „Gefängnisfieber“ bezeichnetes Phänomen und berichtet, dass Gefangene sehr lange auf einen Arztbesuch oder die Verlegung in die Gefängnisklinik warten müssen.
Ali Kantoori war im Dezember 2007 in der Nähe seiner Wohnung in Qazvin verhaftet und in Abteilung 209 des Evin-Gefängnisses inhaftiert worden. Später wurde er ins Gefängnis Ghezel Hesar verlegt. Im Juni 2009 wurde er gegen eine Kaution von 150.000 Dollar freigelassen. Zuvor hatte ihn das Revolutionsgericht in Sanandaj wegen Propaganda, Aufbegehren gegen das Regime und Handlungen gegen die nationale Sicherheit zu 32 Monaten Haft verurteilt, während ein anderes Gericht ihn zu 15 Jahren Gefängnis verurteilte. Kantoori befindet sich zur Zeit als Flüchtling in der Türkei.
Hier ist das Interview mit ICHRI:
Was waren die größten hygienebezogenen Probleme im Gefängnis?
Ein viel größeres Problem als der Zugang zu ärztlicher Versorgung ist in Abteilung 209 von Evin die psychologische Situation der Gefangenen. Ich hatte mehrfach sowohl psychologische als auch körperliche Beschwerden. Ich bat darum, von einem Arzt untersucht zu werden, und innerhalb von einem oder zwei Tagen kam ein Arzt zu mir. In dieser Abteilung hingegen verteilen sie Tranquilizer, unabhängig davon, woran man leidet. Sie sagen, die Probleme seien nervenbedingt. Eine wirkliche Behandlung gibt es nicht.
Viel offenkundiger ist aber die fehlende psychologische Hygiene. Wenn zum Beispiel jemand in der Verhörphase ist und von den Befragern unter Druck gesetzt wird, Dinge aufzuschreiben, die sie ihm vorgeben, dann ist das etwas, was den mentalen Zustand des Gefangenen durcheinanderbringt. Die Befrager sind Experten dafür. Ich teilte mir zum Beispiel zwei Tage lang eine Zelle mit Farhad Haj Mirzaee. Er war gefoltert worden und konnte nicht schlafen. Er hatte schlimme Schmerzen im Brustkorb, und wir baten darum, dass er von einem Arzt untersucht wird. Am Ende bekam er Schmerzmittel, Paracetamol oder Ibuprofen. Sie sagten zu ihm, sie könnten nichts für ihn tun, er habe Schmerzen wegen der Schläge.
Wie steht es mit der persönlichen Hygiene, wie war es beispielsweise, nachdem Sie in Quarantäne verlegt wurden?
Nach meiner Haft in Abteilung 209 wurde ich in den Quarantänebereich des Evin-Gefängnisses verlegt. Mir fielen dort viele Hygieneprobleme auf. Weil die Station isoliert ist und es für die Gefangenen dort neue Anordnungen gibt [die Gefangenen von dort aus weiterverteilt werden], gibt es dort keine frischen Decken, man kümmert sich nicht besonders um die Gefangenen. Die Abteilung ist schlecht organisiert, und die Gefangenen dort befinden sich in einem andauernden Übergangsstadium, weil sie noch nicht zu einer bestimmten Abteilung zugeordnet wurden.
Ich selbst wurde aus der Quarantänestation von Evin in die Quarantänestation von Ghezel Hesar verlegt. Dort verbrachte ich die ersten beiden Tage. Als ich in die allgemeine Abteilung verlegt wurde, war das eine große Veränderung. Die Abteilung besteht aus kleinen Räumen, und sehr viele Menschen müssen dort auf engstem Raum leben. Es gibt 14 Räume in einem Gang, und in dem Trakt direkt dahinter gibt es noch einmal 14 Räume. In jeder Halle der allgemeinen Abteilung von Ghezel Hesar gibt es 28 Räume. Eine kleine Krankheit wie eine einfache Erkältung kann sich leicht auf alle übertragen.
Sind sie im Gefängnis krank geworden? Wie wurden Sie von den Wachen und dem Klinikpersonal behandelt?
Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft bekam ich hohes Fieber und Schüttelfrost, und ich bat darum, in die Krankenstation gebracht zu werden. Einer der Gefangenen, der für die Wachen zuständig war, wollte mich in die Krankenstation bringen lassen, aber die Wachen sagten: „Unsere Abteilung ist heute nicht an der Reihe. In drei oder vier Tagen sind wir wieder dran.“ Ich wartete mehrere Tage und litt unter dem Schüttelfrost, bis sie mich endlich zum Arzt brachten.
Wenn wir darum baten, einen Arzt aufsuchen zu dürfen, sagten sie uns normalerweise: „Es ist nichts Ernstes, es ist Gefängnisfieber.“
Ein anderes Mal bekam ich Asthma. Etwa sechs Wochen lang hustete ich sehr viel, es belastete mich und auch die anderen, denn sie konnten nicht schlafen. Dort, wo sie mich hinbrachten, war es nicht wie in der Quarantäne. Wir mussten an Decken nehmen, was da war – auf den Betten oder auf dem Boden. Wenn ein Raum nie Sonnenlicht hat, kommen die Flöhe, dagegen kann man nichts machen. Eine solche Umgebung ist prädestiniert dafür, dass man alle möglichen Krankheiten bekommt.
Bekamen Sie die notwendige medizinische Behandlung?
Meine Familie und auch Menschenrechtsaktivisten haben auf meine Situation aufmerksam gemacht. Jemand von der Sicherheitsabteilung der Gefängnisorganisation und der Gefängniswärter kamen zu mir und fragten mich, was ich den Leuten draußen erzählt hätte. Ich sagte: „Ich bin im Gefängnis, ich habe keine Ahnung.“ Sie sagten: „Deine Familie hat Interviews gegeben.“ Sie hörten dann, wie stark ich hustete, und brachten mich in die Krankenstation. Eineinhalb Monate, nachdem die Medien darüber Berichtet hatten und meine Familie protestiert hatte, statteten mir die Gefängnisbehörden also einen Besuch ab, bei dem sie dann merkten, dass ich krank war.
Wie wurden die Tranquilizer verschrieben? Erfolgte die Verschreibung durch einen Fachmann?
Abteilung 209 des Evin-Gefängnisses ist keine normale Gefängnisabteilung. Wir haben keinen normalen Schlaf(rhythmus), und wir baten die Ärzte, uns Beruhigungsmittel zu geben, und die sagten uns, wir sollten sie nicht nehmen. Aber als derselbe Arzt, der mir zunächst keine Beruhigungsmittel verschreiben wollte, meinen psychologischen Zustand bemerkte, hatte er keine andere Wahl, als mir welche zu geben.
Haben die Auswirkungen Ihrer Krankheiten nach Ihrer Freilassung nachgelassen?
Die Folgen von Folter manifestieren sich nicht sofort, auch nicht innerhalb von Tagen, Monaten oder Jahren. Manchmal treten die Folgen erst nach langer Zeit auf. Ich hatte nach einiger Zeit merkwürdige Empfindungen in meinem Kopf und in meinem Magen. Erst nach langer Zeit verstand ich, dass dies die Folge von immensem Stress war. Psychologische Folter klingt viel länger nach als körperliche Folter. Wenn zum Beispiel die Rippen (durch Folter) verletzt werden, kann man zum Arzt gehen und sich behandeln lassen. Aber meine persönliche Erfahrung zeigt, dass psychologische Folter viel länger nachwirkt. Lange Verhöre, Einzelhaft, ein Mangel an frischer Luft – das alles setzt die Gefangenen großem Druck aus. (Bezüglich der Beruhigungsmittel) hat man die Wahl zwischen einem größeren und einem kleineren Übel. Obwohl die Tabletten ernste Nebenwirkungen hervorrufen, würde der Druck für den Gefangenen ohne sie derart ansteigen, dass sich sein Zustand noch weiter verschlechtern würde. Selbst wenn man nicht verhört wird – wenn man in einem Raum von 3 -4 m² Größe ohne ausreichendes Licht lebt, nur alle paar Tage 15 Minuten lang frische Luft bekommt und kein Telefon benutzen kann, hat das solche Auswirkungen auf den mentalen Zustand, dass man keine andere Wahl hat, als diese Tabletten zu nehmen.
Deutsche Übersetzung: Julia, bei Weiterveröffentlichung bitte Link angeben