Was ist aus den tausenden Verwundeten der Proteste nach der Wahl geworden? Interview mit einem Betroffenen

Kalemeh/Enduring America, 12. Dezember 2011 – Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Menschen nach der iranischen Präsidentschaftswahl vom Juni 2009 getötet, verletzt und eingesperrt wurden.

Vergangenen Monat starb Alireza Saboori, der bei den Demonstrationen am 15. Juni 2009 einen Kopfschuss erlitten hatte, in den USA. Dies veranlasste Mohammad (Farhad) Yeganeh Tabrizi, der bei den Ashura-Demonstrationen im Dezember 2009 verletzt worden war, aus seiner Anonymität herauszutreten. „Ich habe mich schon damit abgefunden, dass mich früher oder später das gleiche Schicksal ereilen wird. Was mich zur Zeit aber quält, ist der Umstand, dass die tausenden Verletzten, deren Schmerzen um ein Tausendfaches höher sind als der Tod derer, die bei den Demonstrationen nach der Wahl gestorben sind, in Vergessenheit geraten.“

Yeganeh Tabrizi hat mehrere Operationen hinter sich und leidet noch immer an den Auswirkungen der Kugeln in seinem Körper. Er beklagt die fehlende Aufmerksamkeit der Medien, der Familien und selbst einiger im Ausland lebender Iraner gegenüber dem Schicksal der verletzten Demonstranten. „Ich frage mich, was wohl wäre, wenn Neda Agha Soltan nicht gestorben, sondern ebenfalls verletzt worden wäre. Wie viele Iraner würden sich um sie und ihre Familie kümmern? Wie viele ausländische Reporter würden sie interviewen? Wie viele würden sie besuchen? Wie viele Journalisten würden Berichte über sie schreiben? Würde ihre Familie Informationen herausgeben können, um ihr Leben zu retten? Oder würde auch sie wegen ein paar rationaler Entschuldigungen ihrer Familie und der Medien unter obskuren Umständen und in absoluter Anonymität sterben?“

„Das Schweigen der Angehörigen, das Unterbleiben von Nachforschungen durch die Medien und die Tatsache, dass die meisten dieser verletzten Iraner vergessen sind und keinerlei Unterstützung bekommen haben, bedeutet im Grunde genommen, dass sie lebendig begraben sind. Sie sind für die Freiheit ihres Landes auf die Straße gegangen und haben dafür mit dem Leben bezahlt bzw. sind dabei, ihr Leben zu lassen. Ich habe erst gehört, was mit Leuten wie Alireza passiert ist, nachdem ich Iran verlassen hatte.“

„In der Türkei habe ich verletzte Iraner getroffen, die in Armut und Elend leben, ohne Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Sie warten auf Antwort vom UNHCR (UN-Flüchtlingsrat), damit sie umgesiedelt werden können. Von vielen weiß ich immer noch nicht, was aus ihnen geworden ist.“

In einem Brief an den UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Iran schrieb Yeganeh Tabrizi:

Ich bitte Sie darum, die Frage zu untersuchen, warum ich – ein iranischer Bürger, der sich 15 Jahre seines Lebens um seinen Lebensunterhalt gekümmert hat – in einer einzigen Nacht alles verlieren konnte, nur weil ich gegen eine Wahl protestiert habe, die vom iranischen Regime manipuliert worden war. Ich bitte darum, dass Sie untersuchen, warum ein Mensch wie ich gezwungen ist, alles, was er hat, für die Behandlung seiner Verletzungen aufzuwenden, um sich aus dem Land schmuggeln zu lassen, und den Rest seines Lebens damit zu verbringen, allmählich geistig und körperlich immer mehr in Lähmung zu verfallen.
Ich habe eine Stimme abgegeben, und sie wurde nicht gezählt. Warum muss ich dafür mein Leben und mein Wohlergehen aufgeben? Mit diesem Brief erkläre ich, dass ich gegen die Islamische Republik Vorwürfe erhebe und Entschädigung fordere für meine körperliche Lähmung, den Abbau meiner geistigen Fähigkeiten,  den Verlust meiner Arbeit, meines Geschäfts und die körperlichen Folterungen und Demütigungen, die ich durchlebt habe.
Sollte ich in diesem Leben eine Quelle der Gerechtigkeit finden, werde ich Gerechtigkeit fordern. Anderenfalls werde ich meine Klage dem Gott vortragen, der mich lange genug am Leben erhalten hat, damit ich Ihnen mein Anliegen vortragen kann.

Das vollständige Interview
Herr Yeganeh, ich hatte Sie schon einmal um ein Interview gebeten, und Sie hatten damals geantwortet, dass Sie in Behandlung seien und dass es Ihnen zu viel sei, sich an das zu erinnern, was an Ashura passierte. Können Sie uns erzählen, was an diesem Tag geschehen ist?
Ich wurde angeschossen. Es war der 25. Dezember 2009 [Anm. d. Übers.: Ashura war am 27. Dezember; möglicherweise handelt es sich um einen Tipp- oder Transferfehler vom iranischen in den westlichen Kalender]

Wo genau befanden Sie sich bei dieser Demonstration, und wie ist das Ganze passiert?
Wir bewegten uns vom Imam-Hossein-Platz zum Enghelab-Platz und wurden dabei ständig von Sicherheitskräften und Bassijis angegriffen. Aber wir wechselten ständig die Richtung, um der Konfrontation mit ihnen aus dem Weg zu gehen. Auf wechselnden Routen gelangten wir schließlich zurück zum Enghelab-Platz und dann zur College-Brücke (Pole Kalei). Alles war voller Menschen, zwischen der Brücke und dem Vali-Asr-Platz schlugen die Leute sich auf die Brust und trauerten [Anm. d. Übers.: Ashura ist ein schiitischer Tag der religiösen Trauer] , waren aber gleichzeitig dort, um die Grüne Bewegung und Mir Hossein Moussavi zu unterstützen. Ich bewegte mich ebenfalls unter der Brücke in Richtung Vali Asr, weil die Brücke voller Zivilagenten war, die die Leute nicht auf die Brücke ließen.

Als wir uns dem Ende der Brücke näherten, erschienen plötzlich Sondereinsatzkräfte mit ihren Spezialfahrzeugen aus Richtung Vali Asr und griffen die Menschen an. Es war so viel Tränengas in der Luft, dass man nichts sehen und nicht atmen konnte. Wir mussten uns zurückziehen. Gleichzeitig fingen die Männer auf der Brücke an, uns mit Steinen zu bewerfen. Viele Leute wurden verletzt. Wir mussten in die Alborz-Straße ausweichen und von dort aus zur Hafez-Straße gelangen, aber dort war der Weg blockiert worden. Die Leute waren von den Zivilagenten und den Sondereinheiten umstellt. Überall gab es Zusammenstöße, es wurde scharf geschossen, Steine flogen, und Tränengas wurde abgefeuert.

Wissen Sie noch, wer auf Sie geschossen hat? Ich meine, konnten Sie die Gesichter der Schützen erkennen?
Drei von uns wurden von Sicherheitskräften in den Kopf geschossen. Ein Mann in Zivil schoss mit einer Pistole auf uns. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Polizei auf uns schießen würde. In dem Augenblick, als ich sah, dass sie auf uns schossen, bekam der neben mir sitzende Mann einen Schuss ins Gesicht ab. Ich drehte mich um, um ihm zu helfen, und drehte den Schützen den Rücken zu. Schüsse trafen mich in den Hinterkopf und in den Rest meines Körpers. Ich wurde von insgesamt 150 Schrotkugeln getroffen.

Was haben Sie getan, nachdem Sie verwundet worden waren? Wurden Sie ins Krankenhaus gebracht, und wenn ja, in welches? Wie waren die Umstände an diesem Tag?
An diesem Tag hatten die Leute die Sondereinheiten eingekreist. Sie entwaffneten die Polizisten, zogen ihnen die Uniformen aus und ließen sie später einen nach dem anderen gehen. Ich sah plötzlich einen Körper von der Brücke fallen. Es war ein junger Demonstrant, den die Zivilagenten von der Brücke gestoßen hatten. Er landete neben uns auf der Straße, er war schlimm zugerichtet. In diesem Moment dachte ich, dass ich von einem Stein getroffen worden war und flüchtete unter die Brücke. Da erst realisierte ich, dass ich am Kopf und am ganzen Körper furchtbar blutete. Nachdem ich gesehen hatte, wie die anderen Demonstranten aussahen, die ebenso wie ich angeschossen worden waren, wurde mir klar, dass mein Körper völlig durchlöchert war. Als ich unter der Brücke ankam, verlor ich das Bewusstsein und konnte nichts mehr hören oder sehen. Ich dachte, ich würde sterben. Dann hörte ich Stimmen, junge Leute standen um mich herum und dachten, dass ich wegen des Blutverlustes schon tot sei. Ich wollte eine Hand oder einen Fuß bewegen, damit sie sehen, dass ich noch lebe. Aber es gelang mir nur, ein Auge zu öffnen, und einer der jungen Leute, den ich nicht kannte, hob mich mit seinen Freunden zusammen hoch und brachte mich aus der Gefahrenzone.

Ich hatte kaum Hoffnung, aus dieser Todeszone herauszukommen, aber diese jungen Leute, von denen ich später ein Foto fand, brachten mich zu ihrem Auto und legten mich auf den Rücksitz. Das Auto füllte sich mit Blut, und ich konnte mich nicht bewegen. Sie brachten mich in eine Ambulanz in der Hafez-Straße, von wo aus ich sofort ins Sina-Krankenhaus gebracht wurde. An der Einfahrt kam ein Sicherheitsagent in Zivil und durchsuchte meine Taschen. Er beschlagnahmte mein Mobiltelefon und andere Dinge, die ich bei mir hatte.

Wurden Sie danach in Iran operiert und behandelt? Hatten Sie irgendwelche Sicherheitsprobleme, nachdem Sie verwundet worden waren? Hatten Sie Angst davor, ins Krankenhaus zu gehen?
Nach Zusicherungen eines Bekannten, der im Armee-Hospital arbeitete, wurde ich in dieses Krankenhaus gebracht, wo ich vom Geheimdienst überwacht wurde. Ich war 20 Tage lang bewusstlos und lag auf der Intensivstation. Als ich wieder zu mir kam, erfuhr ich, dass zwei Schrotkugeln in mein Gehirn eingedrungen und es schwer verletzt hatten. Die Ärzte dort taten alles, was sie konnten, haben aber wegen ihrer Erfahrung mit verwundeten Soldaten mein Gehirn nicht angetastet, damit nicht noch mehr Schaden entsteht. Stattdessen haben sie mir Medikamente gegeben, die sehr schwer zu bekommen und sehr teuer sind und die verhinderten, dass bei mir der Hirntod eintrat. Nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, wurde ich zwei Mal von der Geheimdienstpolizei verhört. Darüber habe ich auch (dem UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Iran) Ahmad Shaheeed geschrieben.

Als ich noch in Iran war, übergaben die Leute, die für mich die Verantwortung übernommen hatten, meinen halb gelähmten Körper in einem Rollstuhl auf der Moalem-Straße der Geheimdienstpolizei. Nach der Befragung schickten sie mich mit einer Wache ins Revolutionsgericht, wo ich einem Untersuchungsrichter von Abteilung 10 übergeben wurde. Bevor die Geheimpolizei mich befragen konnte, sagte ich dort aus, dass ich gegen die Sicherheitskräfte Beschwerde erheben wolle, die auf mich geschossen hatten. Der Vertreter der Geheimdienstpolizei begann, mich vor den Augen des Untersuchungsrichters zu schlagen. Ich fiel aus dem Rollstuhl. Er nannte mich einen Kriminellen, weil ich an Ashura auf der Enghelab-Straße gewesen war. Er sagte, mein Verbrechen sei bewiesen, und sie würden nach Fotos und Videos von mir auf der Enghelab-Straße suchen, und wenn sie welche gefunden hätten, würden sie mich vor Gericht stellen und aufhängen. Um alles noch schlimmer zu machen, brachten sie mich dann in den Keller, um Fingerabdrücke von mir zu nehmen. In Wirklichkeit wollten sie aber nur, dass ich die brutale Folter anderer Gefangener miterlebe. Hunderte Menschen waren in Ketten gelegt worden und wurden immer wieder geschlagen. Er sagte zu mir, dass das alles Ashura-Demonstranten seien, die wie ich mit der Polizei zusammengestoßen wären. Er sagte, man würde uns alle nach Evin bringen und töten.

Was geschah, nachdem Sie beschlossen hatten, Iran zu verlassen?
Auch wenn mein Leben wie durch ein Wunder gerettet wurde, habe ich trotzdem alles verloren. Meine Arbeit wurde mit verschiedenen Taktiken verhindert. Ich musste mit meiner Firma Insolvenz anmelden. Mein Fall wurde weiter im Revolutionsgericht bearbeitet. Es hatten sich Verzögerungen ergeben, weil ich linksseitig gelähmt war. Es ging mir weder körperlich gut, noch war ich in der Lage zu arbeiten, ich hatte kein Leben mehr. Ich nahm Kontakt zu verschiedenen Parteien und Gruppen auf, sogar zu den Führern der [Grünen] Bewegung. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich innerhalb Irans keinerlei Hilfe finden kann, beschloss ich, das Land zu verlassen.

Sind Sie im Ausland operiert und behandelt worden?
Ich werde zur Zeit in einem Krankenhaus behandelt. Aber auch hier haben sie beschlossen, die Kugeln in meinem Gehirn nicht anzutasten. Sie versuchen, mir mit Physiotherapie und anderen begrenzten Methoden zu helfen. In den nächsten Wochen wird es aber ein neues Verfahren geben, um die Kugeln durch mein Ohr zu entfernen. Nach zwei Jahren ist meine linke Hand vollkommen gelähmt, und ich kann nur unter großen Anstrengungen gehen. Aber ich habe diesen Verlust akzeptiert und muss mich damit arrangieren. Ich habe genug von Behandlungen und Krankenhäusern, und sie haben genug von mir. Vielleicht bewegen sich die Kugeln ja und ersparen uns weitere Umstände (d. h. er wünscht sich zu sterben).

Nachdem ich diese Tage und diese Szenen miterlebt habe, haben Leben und Tod für mich jede Wichtigkeit verloren. Vielleicht ist der Tod friedlicher und erfreulicher als dieses Leben. Schließlich habe ich es vorher ja erlebt, es war sehr schön. Ich weiß nicht, warum Gott mich in diese Welt voller Unterdrückung und Tyrannei zurückgeschickt hat. Vielleicht wollte das Schicksal es, dass ich die Unterdrückung des iranischen Volkes sehe und Zeugnis ablege.

Hatten Sie erwartet, dass man auf Sie schießen würde, nur weil sie an einer Demonstration teilnehmen?
Überhaupt nicht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Teilnahme an einer Wahl so einen Preis und einen derartigen Verlust bedeuten würde. Aber ich hatte acht Monate lang immer wieder miterlebt, wie die Menschen auf den Straßen bluteten. Ich habe den Schweigemarsch für die Freiheit erlebt, den Tod Nedas, ich habe alles mit meinen eigenen Augen gesehen. Die Nachrichten über Kahrizak und andere ähnliche Vorfälle in den Gefängnissen hatte ich gehört. Aber an Ashura wollten wir wie Imam Hossein mit unserem Blut den Palast des Reichtums und der Macht zerstören, der den Yazeed unserer Zeit gehört. Ja, ich bin an Ashura auf die Straße gegangen, obwohl ich die Brutalität der Regierung kenne und weiß, dass sie wie Wilde auf die Menschen losgehen. Ich wollte lieber an Ashura in Würde sterben, als in Demütigung zu leben.

Was hat sie in dieser Zeit besonders geschmerzt?
Was mich wirklich quält, ist dass bei jedem Angriff auf Demonstranten viel mehr Menschen verletzt als getötet wurden. Wir wissen nicht, wo sie sind und was sie erleben. Die Familien vieler dieser Verletzten sind gezwungen, ihren Nachbarn gegenüber zu lügen [und zu verschweigen], welche Brutalität die Regierung ihnen gegenüber an den Tag gelegt hat, um sich selbst und ihre Lieben vor noch mehr Leid zu schützen. Aber sie wissen nicht, dass sie die Verletzten damit lebendig begraben. Warum wusste niemand von Alireza Saboori und seiner Situation in den letzten zwei Jahren?

Alireza wurde im Juni 2009 verletzt, aber seine Familie war nicht bereit, irgendjemanden über seine Situation zu informieren. Erst kürzlich, nachdem er als Flüchtling in Boston gestorben war, hat ein im Ausland lebendes Familienmitglied in einem Interview über ihn gesprochen.
Sie meinen, dass die Iraner in Boston nicht wussten, dass Alireza im Krankenhaus liegt? Sie meinen, das liegt an Amerika? Nein, das liegt zuallererst an den Familien, und dann habt ihr Reporter im Ausland euch nicht darum gekümmert. Sie können das zensieren, weil es auch Sie betrifft. Aber es ist eine bittere Wahrheit, die ich aussprechen muss. In vielen Fällen haben viele Menschen daran mitgewirkt, dass solche Opfer lebendig begraben wurden.

Seit [dem Tod von] Alireza Saboori, der meine Schmerzen geteilt hat und als Flüchtling starb, nagen viele Fragen an mir. Warum sind Sie nicht persönlich den Fällen der verletzten Demonstranten nachgegangen, von denen es viel mehr gab als Tote? Ich hatte in der Türkei persönlichen Kontakt mit Leuten wie Alireza Saboori. Sie leben in Armut und Elend, ohne Zugang zu medizinischer Grundversorgung, und warten auf eine Antwort vom UNHCR, um umgesiedelt werden zu können. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo sie jetzt sind und welche neuen Probleme sie nun haben.

Sie alle, die Sie Bleistift und Publikum haben, sind verantwortlich. Vor allem Kalemeh und Jaras und selbst BBC und VOA. Hatten Sie Angst, dass Ihr Gewissen und das Gewissen anderer durch die Geschichte über das Leid eines Menschen mit Schrotkugeln im Hirn beunruhigt werden könnte? Vielleicht sind die Toten besser dran, denn sie wurden begraben, sie haben keine Klagen, Bitten oder Bedürfnisse mehr und können nicht mehr sprechen. Ich frage Sie in vollem Ernst: Wenn Neda Agha-Soltan heute noch leben würde, wie viele der Iraner, die immer noch ihren Namen sagen, würden sie heute besuchen? Wie viele würden ihr helfen, wenn sie in Not wäre? Wie viele Reporter und Fotografen würden über sie berichten? Es ist besser, mich und Alireza zu bitten, so schnell wie möglich zu sterben, damit Sie eine Geschichte für Ihre Zeitungen haben, die Ihnen nicht zu viel Kopfschmerzen macht.

Sie haben Recht. Ihr Standpunkt ist verständlich, und ohne Zweifel haben unsere Fehler und das Schweigen der Familien, die Angst, die Sicherheitssituation und viele andere Probleme existiert und existieren bis heute. Können Sie sagen, was für Sie in dieser Zeit das größte Problem war?
Als ich in Teheran war und jeden Tag zwischen dem Revolutionsgericht, der Geheimdienstpolizei und der Gerichtsmedizin hin- und herfahren musste, hätte ich unbedingt einen Arzt und einen Anwalt gebraucht. An welche Tür ich auch klopfte, niemand ließ mich ein. War es so schwer für sie, mir Kontakt zu einem Arzt und einem Anwalt zu vermitteln? Sogar Webseiten wie Jaras und Kalemeh, die wussten, dass ich acht Monate lang politisch aktiv war und die die Grüne Bewegung unterstützen, haben sich nicht um mich gekümmert. Warum? Noch trauriger ist, dass die Gegner der Islamischen Republik außerhalb Irans sagten, dass ich zum Regime gehöre  und zu Moussavis Gruppe, und sie haben sich nicht um mich gekümmert. Auch meine Familie und meine Bekannten haben sich zusammengetan, um das Ganze zu verbergen. Ich verstehe jetzt vielleicht, was der arme Alireza Saboori infolge dieser Bedenken, Unaufmerksamkeit und Vergesslichkeit durchmachen musste. Bevor Leute wie ich sterben, wissen vielleicht alle, wie sie sich zusammentun und Kompromisse eingehen und uns lebendig begraben können.

Gibt es nach all diesen bitteren Tragödien, die Sie erlebt haben, Dinge, die Sie bedauern? Würden Sie, wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, wieder an den Demonstrationen teilnehmen?
Schauen Sie – die meisten von uns, ich meine die Demonstranten der Grünen Bewegung, waren zu dem Schluss gekommen, dass eine Beteiligung an der Präsidentschaftswahl, die Stimme für die Kandidaten, die gegen die Führung standen, der einzige Weg war, um Iran und die Iraner vor Krieg, Unterdrückung und Elend zu bewahren und uns in Richtung Demokratie zu bewegen. Wir waren überzeugt, dass wir Iran retten wollten. Anderenfalls würde ich jetzt in meiner Firma arbeiten, Mir Hossein Moussavi (Präsidentschaftskandidat von 2009) würde malen und sich mit seiner Kunst beschäftigen. Die Studenten würden studieren, Reporter und Schriftsteller würden in ihren Büros sitzen, und die Politiker würden aufeinander herumhacken. Aber als wir sahen, dass Iran sich in Richtung von absoluten Diktatur, Krieg und Militarismus bewegt, als wir sicher waren, dass sie die Wirtschaft und die Landwirtschaft zerstören und sie durch die Mafia der Revolutionsgarden ersetzen wollten, war keine Zeit mehr zu verlieren. Wir gaben unser Leben und unsere Arbeit auf und traten auf die Bühne, um Iran zu retten. Wir haben es nicht geschafft, aber ich bin zumindest sicher, dass ich meinem Land gegenüber meine Pflicht erfüllt habe, also bereue ich persönlich nichts. Bereuen sollten die, die an der Unterdrückung der freiheitssuchenden Menschen mitgewirkt haben, die Iran mit ihrer Apathie und ihrem Schweigen ins Verderben gezogen haben. Gott ist mein Zeuge – wenn sich die Geschichte noch hundert Mal zurückdreht, werde ich wieder an der vordersten Front der Grünen Bewegung des iranischen Volkes stehen, entschlossener denn je, und dieses Mal werde ich entweder Iran retten oder den Tod wählen, damit ich die Zerstörung Irans und der Iraner nicht miterleben muss.

Waren Sie vor der Wahl schon politisch aktiv?
Als Student habe ich auch Zusammenstöße [mit den Sicherheitskräften] gehabt und wurde geschlagen. Darum beschloss ich damals, mich nicht in die Politik einzumischen und mich nur auf meine Arbeit und meine Firma zu konzentrieren. Aber als ich dann sah, wie die Politik kurz davor war, mein Land zu zerstören und wie Moussavi mit leeren Händen zum Kampf angetreten war, konnte ich nicht anders. Ich musste die Bühne betreten und mein Schweigen brechen. Nun ja, die Führer des Regimes hatten freie und gesunde Wahlen versprochen. Am Anfang ist Liebe immer einfach (ein persisches Sprichwort).

Gibt es eine Frage, die ich noch nicht gestellt habe, oder etwas, was Sie noch sagen möchten?
Ich möchte nur einige Dinge über die Grüne Bewegung des iranischen Volkes sagen. Diese Bewegung ist die Kristallisation des hundertjährigen Kampfes des iranischen Volkes für eine auf demokratischen Prinzipien aufgebaute freie Gesellschaft. Sie war friedlich und lehnte Gewalt ab, und anfangs wollte sie das System nicht beseitigen und die Zügel der Macht nicht in die Hand nehmen. Doch die mangelnde Vorausschau Khameneis hat diese historische Gelegenheit zerstört. Stattdessen ist die Macht in die Hände der korrupten Bande Ahmadinejads gelangt, die ihren persönlichen Gewinn über die nationalen Interessen Irans stellt. Diese führungs- und schutzlose Bewegung aber hatte keine Unterstützung, weder im Ausland, noch im Inland. Sie hatte nur die Menschen, die unerschütterlich und fest aufstanden und ihr Leben und ihre Lebensgrundlage opferten.

Als ein Mensch, der bei diesen Ereignissen verletzt wurde, habe ich praktisch keine Hilfe oder Unterstützung von irgendeiner Gruppe oder Partei bekommen. Wo sind denn die Milliarden, die die Vereinigten Staaten der Grünen Bewegung nach Ansicht dieser herrschenden Lügner gegeben haben? Moussavi und Karroubi sind in Gefangenschaft. Wir, die Akivisten hinter der Grünen Bewegung, haben alles, was wir haben, gegeben, um unser Leben zu retten, wie die anderen Märtyrer und Gefangenen.

Wo sind also die Milliarden, von denen der Oberste Gerichtshof und Herr (Ahmad) Jannati schwören, dass wir sie bekommen haben? Sogar Amerika hatte der iranischen Regierung die Hand hingehalten, und Obama und Khamenei schrieben einander Briefe, während die Leichen iranischer Jugendlicher in den Straßen Teherans lagen. Jetzt, wo diese Männer in Lügen und dem Blut des unschuldigen iranischen Volkes versunken sind, müssen sie hören, wie die Säulen ihrer Macht knirschend in sich zusammenfallen. Diese Bewegung hatte viele Aktivisten, aber wenig Unterstützer. Die Opposition im Ausland war von Anfang böse auf die Bewegung. Ausländische Mächte, die unter dem Druck ihrer eigenen Bevölkerung standen, beschlossen, die Situation als Möglichkeit zu nehmen, um dem Regime die Hand der Freundschaft zu reichen, bis zu dem Punkt, wo das Regime sich selbst die Erlaubnis erteilte, die Bewegung zu unterdrücken und hinzumetzeln. Jetzt, wo wir, das Volk, das von niemandem unterstützt wird, auf den Knien liegt, gibt US-Außenministerin Clinton Erklärungen ab, und auch die Opposition signalisiert ihre Unterstützung. All das kommt etwas zu spät.

Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Enduring America
Persisch: Kalemeh
Interview: Masih Alinejad. Englische Übersetzung: S. Ravandi, Josh Shahryar

Eine Antwort zu “Was ist aus den tausenden Verwundeten der Proteste nach der Wahl geworden? Interview mit einem Betroffenen

  1. Wundabar! 🙂

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