Projekt „Nationales Internet“: Reinheit durch Zensur

Arseh Sevom, 19. April 2012 – Behauptungen, nach denen Iran Ende August ein „nationales Internet“ einführen und den Zugriff auf Google, Hotmail und andere externe Dienste blockieren will, sind vom iranischen Minister für Kommunikation Reza Taghipour dementiert worden. In einer Erklärung teilte er mit, es gebe keine Pläne, den Internetzugang einzuschränken; anderslautende Aussagen seien ein „Aprilscherz“ (Scherz zum 13. Farvardin, der mit dem 1. April zusammenfällt). Schuld daran sei westliche Propaganda, die Gerüchte streue, so Taghipour.

Das nicht-dementierende Dementi

Trotz Taghipours nicht-dementierenden Dementis überraschen die ihm zugeordneten Äußerungen nicht. Staatliche Versuche, das Internet und soziale Netzwerke zu kontrollieren, sind gut dokumentiert und reichen zurück bis ins Jahr 2001, als die Regierung Zugangspunkte unter ihre Kontrolle brachte. In einem bei Fars News am 23. Juli 2006 veröffentlichten Artikel wird der damalige Kommunikationsminister Mohammad Soleimani zitiert, der über das nationale Internet sagte, es werde den Nutzern im Inland durch geringere Kosten zugute kommen. Zum Thema Zensur und Filterung erkärte er: „Grundsätzlich ist das Filtern richtig. Das Ziel ist es, ungenaue Informationen und Verleumdungen zu eliminieren.“ Und er fügte hinzu: „Wenn Filter benutzt werden, müssen die Menschen mit korrekter und nützlicher Information versorgt werden. Das Filtersystem ist ein gutes System, und wir müssen seine Wissenschaft in unserem Land erschließen.“

Der Blogger und Computeringenieur Arash Abadpour, der diese Geschichte aufmerksam verfolgt hat, kommentierte gegenüber Arseh Sevom das Minister-Dementi einer sommerlichen Deadline für die Umsetzung des nationalen Internets mit den Worten: „Es ist nicht so, dass es nicht genügend Menschen gibt, die bereit sind, der Welt zu sagen, dass es bezüglich Iran die eine oder andere Falschmeldung gibt – ebensowenig wie es zu wenig Politiker oder Offizielle gibt, die behaupten, falsch oder ohne Kontext zitiert worden zu sein. Das nationale Internet entwickelt sich. Ob es erfolgreich sein wird oder nicht ist aber noch offen.“

Der aktuelle Zustand des nationalen Internets

Arseh Sevom verfolgt die Entwicklungen bei der Bemühung um ein sogenanntes „reines Halal-Netzwerk“ in Iran über ein Jahr lang verfolgt. (Mehr Informationen dazu können bei Reporter Ohne Grenzen: Enemies of the Internet Report, und in einer Zusammenfassung von Global Voices nachgelesen werden). Hier ist ein kurzer Überblick über den aktuellen Stand des Projekts:

  • Der Aufbau eines nationalen Internet wird fortgesetzt. Wenn überhaupt, ist das iranische Regime nach jüngsten Äußerungen des obersten Führers zu urteilen zur Umsetzung entschlossener denn je;
  • Es scheint klar, dass Iran für die Entwicklung seines nationalen Internets Unterstützung von außen erhalten hat;
  • Innerhalb Irans haben viele Menschen Textbotschaften mit der Aufforderung erhalten, sich bei IranMail (http://mail.iran.ir/register/?module=new) zu registrieren, wofür eine gültige nationale Identifikationsnummer benötigt wird.
  • Bloggers und Betreiber von Webseiten werden gezwungen, sich bei einem nationalen iranischen System zu registrieren;
  • Nichtregierungsorganisationen werden neuerdings angehalten, sich in einem nationalen Netzwerk zu registrieren;
  • Internet-Bandbreite wird vom Staat kontrolliert;
  • 5 Millionen Seiten sind blockiert;
  • 29 Netzaktivisten wurden verhaftet, einigen von ihnen droht die Todesstrafe;
  • Als Begründung für die Schaffung eines nationalen Internets wird die Notwendigkeit „nationaler Sicherheit“ angeführt, was auch demokratische Regierungen als Rechtfertigung für Überwachungsmaßnahmen nennen.

Der Hohe Rat für Internet und Cyberspace

Im März 2012 trat erstmals der neuernannte Hohe Rat für Internet und Cyberspace  zusammen. Er wurde eingerichtet, um zu gewährleisten, dass die Entscheidungen über die Verwirklichung des nationalen Internets auf höchster Regierungsebene getroffen werden.

In einem Interview mit medianews.ir sprach der Repräsentant des Rates Hamid Shahriari auch über einige der Probleme, mit denen das Projekt „nationales Internet“ konfrontiert ist: „Sich überschneidende Gesetze und Regelungen, fehlende Entschlossenheit innerhalb der Regierung und Unklarheit darüber, wer das letzte Wort hat“. Im Verlauf des Interviews behauptete er, die Einrichtung eines Hohen Rates für Internet und Cyberspace sei von einer „irischen Gruppe“ empfohlen worden.

Das Gesetz muss sich beugen

Das geplante nationale Internet ist laut Ayatollah Khamenei als Weg zur Gewährleistung der „nationalen Sicherheit“, zum „Schutz der Jugend“ vor „verderblichen westlichen Werten“ und zur Stärkung der iranischen Cyber-Armee im Kampf gegen den „Sanften Krieg“ gerechtfertigt. Die Einrichtung des Hohen Cyber-Rates war ein weitere Schritt hin zur Bekämpfung der Stimmen im virtuellen Raum.

Die explizite Rückendeckung durch den obersten Führer hat die Mitglieder des Rates zu  dem Schluss kommen lassen, dass ihre Entscheidungen nicht durch iranische Gesetze und die iranische Verfassung eingeschränkt werden. Ratsmitglied Shahriari: „Das Gesetz muss sich den Forderungen des Hohen Rates beugen. Tatsächlich ist das, was wir beschließen, praktisch Gesetz.“

Heute Drinnen, morgen draußen

Nicht alle Regimeanhänger begrüßen das nationale Internet. Ein regimetreuer Blogger kritisiert die mangelnde Transparenz: „Welche Garantie haben wird, dass die Filterung von Seiten und Nachrichten nicht von persönlichen Präferenzen oder politischer Zugehörigkeit geleitet wird?“

Der virtuelle Raum als öffentliches Forum in Iran

Kamran Ashtary, Vorstandsmitglied bei Arseh Sevom: „Das Internet bietet Iranern eine Plattform für freie Rede und Kommunikation in einer Gesellschaft, in der der Staat alle anderen Formen öffentlicher Kommunikation kontrolliert“. Allein die Größe der iranischen Diaspora mit ihren Verbindungen zu Familien und Freunden innerhalb Irans mache es schwer vorstellbar, dass das Land von Verbindungen nach außen isoliert werden kann, auch nicht mit dem Aufbau einer „elektronischen Mauer“, so Ashtary.

Iraner haben die Freiheit, die das Internet ihnen bietet, mit offenen Armen angenommen. Persisch war sogar einmal die drittmeistgenutzte Sprache im Internet. Im Jahr 2001 gab es zehntausende aktive iranische Blogger. Im Oktober 2011 erklärte die Basij-Organisation, es gebe 17 Millionen Iraner auf Facebook.

Das persischsprachige Internet hat ein Forum geschaffen, um über Tabus, Sport und sogar Harry Potter zu diskutieren. In ihrem Artikel Iran’s Reformists and Activists: Internet Exploiters schreiben Babak Rahimi und Elham Gheytanchi:

„Während der digitale Raum der jüngeren Generation die Freiheit brachte, anonym zu interagieren, Gedanken auszutauschen und über Sex und andere gesellschaftliche Tabus zu schreiben, begann die reformorientierte Geistlichkeit, das neue Forum für Debatten über komplexe und polemische politische und theologische Fragen zu nutzen, die nach Ansicht konservativer Geistlicher als ketzerisch galten. Zielgruppe war nicht mehr nur das geistliche Establishment, sondern auch junge Menschen in Iran und auf der ganzen Welt, deren Unterstützung ein Schlüssel für die Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger ist, die ihnen keine Stimme in den von der konservativ dominierten Zensurmaschinerie streng kontrollierten Massenmedien geben wollen.“

Unter denen, die sich frühzeitig soziale Netzwerke erschlossen, waren auch Iraner. Während die Mehrheit der Computernutzer soziale Netzwerke hauptsächlich als Plattformen für Internet-Dating begriffen, unterhielt der frühere iranische Vizepräsident Mohammad-Ali Abtahi ein Profil auf Orkut, und bis 2005 hatte sich für die Arbeit der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi eine Online Community zusammengefunden.

Tu, was ich sage…

In demokratischen Ländern nehmen Anonymität und Schutz der Privatsphäre rapide ab. Facebook und Google+ fordern mittlerweile die Angabe „realer Namen“. Die Tendenz zu mehr Überwachung, Online-Tracking und Nutzung von GPS bedeutet für Menschen, die in geschlossenen Gesellschaften wie der iranischen leben, eine sehr reale Gefahr. Demokratische Gesellschaften müssen einen Schritt zurückgehen und ihre eigene Politik hinsichtlich Privatsphärenschutz und Überwachung überprüfen.

Der Verfasser des Berichts Legalising Surveillance, Regulating Civil Society (pdf) Ben Hayes: „Die Möglichkeit, ein Internet ohne Kontrollen und Überwachung zu nutzen, ist für eine unabhängige Zivilgesellschaft Grundvoraussetzung. Leider tun demokratische Länder nicht genug, um diese Freiheiten in ihren Gesellschaften zu garantieren. Mit ihren Bestimmungen zur Datenspeicherung ist Europa mit seinen Regelungen, die Staaten zur Überwachung ermuntern, mittlerweile führend.“

Empfehlungen

  • Aufrecherhaltung des Drucks auf Iran hinsichtlich der Themen Menschenrechte und Recht auf freie Rede;
  • Sanktionen gegen Firmen und Personen, die Überwachungstechnologie an Iran verkaufen, müssen bestehen bleiben;
  • In Zusammenarbeit mit den betreffenden Firmen müssen Regelungen gegen die Verbreitung von Überwachungstechnologie an Länder erarbeitet werden, in denen die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes gegen die eigene Bevölkerung hoch ist;
  • Förderung von Internetverbindungen über Satellit;
  • Entwicklung von kleinen Tools und Seiten, die keine großen Bandbreiten erfordern;
  • Auch Aktivisten und Oppositionelle sehen gern ab und zu ein Video von einem tanzenden Vogel – Spaß ist ein Schlüssel;
  • Allgegenwärtige Verschlüsselung von belanglosen Inhalten gibt den Wächtern etwas zu tun und beschäftigt sie. Sicherheitsexperte Pete Bagnall: „Ich rate den Leuten gern, Rezepte und schlechte Witze zu verschlüsseln. Das klingt vielleicht albern, aber es schützt Dissidenten, die ihre Kommunikation verschlüsseln müssen, um weniger Verdacht zu erwecken.“

Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Arseh Sevom

3 Antworten zu “Projekt „Nationales Internet“: Reinheit durch Zensur

  1. Pingback: Kurzmeldungen aus der iranischen Zivilgesellschaft – 23. April 2012 | Julias Blog

  2. Pingback: News vom 21. April 2012 « Arshama3's Blog

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