Nachrichten aus der iranischen Zivilgesellschaft – 30. Oktober 2012

CSW-Oct-29Arseh Sevom, 30. Oktober 2012 – Themen dieser Ausgabe: Ahmad Ghabel gestorben | Sacharow-Preis geht an Nasrin Sotoudeh und Jafar Panahi | Iran-Tribunal geht in Den Haag zu Ende | „United for Iran“ kritisiert internationale Gemeinschaft | Schlechter Zeitpunkt für Firmengründungen? | Proteste, Streiks und Kündigungen | Zwangsrückführung afghanischer Einwanderer | Chancenungleichheit und weitere Verbote für Frauen | Teheraner Symphonieorchester stellt Arbeit ein | Film „Facing Mirrors“ läuft in Iran an

Ahmad Ghabel gestorben
Der bekannte Religionsgelehrte und politische Dissident Ahmad Ghabel ist letzte Woche im Alter von 58 Jahren gestorben. Radio Farda schreibt: „Mit Ahmad Ghabel verliert Iran einen seiner dezidiertesten Kritiker, der sich ungeachtet von Druckmitteln, wiederholten Inhaftierungen und Einzelhaft weigerte, sich zum Schweigen bringen zu lassen.“

Sacharow-Preis geht an Nasrin Sotoudeh und Jafar Panahi
Das Europäische Parlament hat den iranischen Filmemacher Jafar Panahi und die inhaftierte Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh wegen ihres mutigen Einsatzes für die Grundrechte mit seinem diesjährigen Sacharow-Preis geehrt. Die Auszeichnung richtet sich an Personen, die sich für Menschenrechte und Gedankenfreiheit einsetzen. „Die Verleihung des Sacharow-Preises für Gedankenfreiheit an die Iraner Nasrin Sotoudeh und Jafar Panahi ist eine Botschaft der Solidarität und Anerkennung an eine Frau und einen Mann, die Einschüchterungen und Angst trotzen und sich entschlossen haben, das Schicksal ihres Landes über ihr eigenes zustellen. Ich hoffe aufrichtig, dass sie im Dezember persönlich nach Strasbourg ins Europäische Parlament kommen können, um ihren Preis entgegenzunehmen“, erklärte EU-Parlamentspräsident Schulz.

Am 27. Oktober sollte eine Delegation des EU-Parlaments nach Iran reisen. Die Delegation hatte darum gebeten, den Preisträgern Einladungsschreiben persönlich übergeben zu dürfen, was die iranischen Behörden ablehnten. Daraufhin wurde der Delegationsbesuch kurzfristig abgesagt.

Nasrin Sotoudeh hat aus Protest gegen den Druck auf ihre Familie einen Hungerstreik gestartet, nachdem die Gefängnisbehörden den Tag für ihre Familienbesuche von Sonntag auf Mittwoch verschoben hatten. Dadurch ist es für die Familie extrem schwierig geworden, sie im Gefängnis zu besuchen. Sotoudehs Hungerstreik hat in den internationalen Medien große Aufmerksamkeit erregt und Reaktionen von Menschenrechtsorganisationen und -aktivisten ausgelöst. In einer aktuellen Eilaktion weist Amnesty International auf den zunehmend geschwächten Gesundheitszustand Nasrin Sotoudehs hin, die durch vorangegangene Hungerstreiks bereits geschwächt ist.

Iran-Tribunal geht in Den Haag zu Ende
Das Iran Tribunal (persisch) ist am 27. Oktober in Den Haag zu Ende gegangen. In einer Erklärung der Richter heißt es, es gebe ausreichende Beweise für Verbrechen der Islamischen Republik gegen ihre Bürger, die eine Untersuchung durch internationale Einrichtungen rechtfertigten. Johann Kriegler, ein ehemaliger Richter am Verfassungsgericht Südafrikas, gab diese Entscheidung bekannt. „Die Beweise, die der Wahrheitskommission und diesem Tribunal vorgelegt wurden, deuten eindeutig auf sechs Formen massiver Menschenrechtsverletzungen hin: Mord, Folter, ungerechtfertigte Inhaftierung, sexualisierte Gewalt und erzwungenes Verschwinden.“ (Tonaufnahme hier bei ca. 2:35).
Kriegler betonte, für die Handlungen des Staates seien einzelne Personen verantwortlich, die für die gegen Bürger verübte Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Die Richter riefen die Zivilgesellschaft auf, die Entscheidung zu unterstützen und offizielle Untersuchungen zu fordern. In ihren Abschlusserklärungen gingen die Richter auch auf die emotionalen Aspekte der dreitägigen Veranstaltung ein. Richterin Patricia Viseur Sellers erklärte: „Das Ausmaß Ihrer Trauer ist jetzt Teil meiner eigenen Trauer; Ihre Hoffnung ist Teil meiner Hoffnung, und Ihre Menschlichkeit macht mich menschlicher.“

Ziel des [rechtlich] nicht bindenden Tribunals war es, die von der Islamischen Republik Iran in den 1980er Jahren an politischen Gefangenen Verbrechen aufzuarbeiten. Die erste Etappe des Tribunals fand unter der Bezeichnung „Wahrheitskommission“ im Juni 2012 im Menschenrechtszentrum von Amnesty International statt. Die zweite Etappe in Den Haag befasste sich mit den Ergebnissen der Wahrheitskommission und erließ auf der Grundlage dieser Ergebnisse sowie Aussagen von 19 Zeugen ein Urteil.

Sowohl die Wahrheitskommission als auch das Volksgericht repräsentieren nicht die Staatsgewalt und können die Angeklagten daher nicht vor Gericht bringen.

[Sehr lesenswertes Interview zum Thema: Ich kenne nur die Stimmen , d. Übers.]

„United for Iran“ kritisiert internationale Gemeinschaft
United for Iran hat im Oktober einen Bericht veröffentlicht, der sich kritisch mit dem Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Menschenrechtslage in Iran befasst. Dokkhi Fassihian, bei United for Iran zuständig für Programme und Interessenvertretung [„advocacy“], erklärte:

„Man kann sicher sagen, dass das nichtrepräsentative Regime in Teheran nicht die Interessen des eigenen Volkes verfolgt. Die internationale Gemeinschaft muss im Umgng mit dem iranischen Atomprogramm und bei der Verhängung von Sanktionen, die die Zivilbevölkerung Irans strangulieren, auch eine langfristige Strategie verfolgen, die die dringende Verantwortung anerkennt, die Einhaltung der Rechte des iranischen Volkes einzufordern. Dieses Volk wird langfristig besser in der Lage sein, seine Führung zur Rechenschaft zu ziehen.“

Schlechter Zeitpunkt für Firmengründungen?
Die instabile Wirtschaftslage in Iran hat erneut zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Inmitten finanzieller Turbulenzen veröffentlichte die Weltbank ihre Ergebnisse zum Thema Ease of Doing Business 2013 und setzte Iran an Platz 145 von 185 Ländern. Damit schneidet das Land im Vergleich zum Vorjahr um einen Platz schlechter ab. Beim Kriterium „Firmengründungen“ hat Iran sich um 37 Punkte verschlechtert. Radio Farda (persisch) argumentiert, für die Erstellung eines solchen Berichts sei es unvermeidbar, neben wirtschaftlichen Entwicklungen auch soziale und politische Veränderungen zu untersuchen, auch wenn sie keine direkten Berührungspunkte mit Politik und Gesellschaft hätten.

Der Leiter des iranischen Zentrums für Statistik, Adel Azar, teilte überraschend mit, dass Daten zur Inflation vertraulich seien und nur an relevante Behörden weitergegeben würden. Die Nachrichtenagentur ILNA (persisch) zitiert Azar mit den Worten, die Arbeitslosigkeit sei in diesem Sommer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (12,9%) um 1% gestiegen.

Proteste, Streiks und Kündigungen
Kalemeh (persisch) berichtet, dass in Isfahan mehr als 300 Arbeiter ihren Job verloren haben. Auch in Kaveh wurden 30 Arbeiter entlassen, weil sie nach fünf Monaten ohne Lohn protestiert hatten. Das Koordinationskomitee zur Unterstützung der Gründung von Arbeiterorganisationen (persisch) berichtet von 20 weiteren Entlassungen in der Fabrik Zarivan/Sanandaj infolge von Produktionsrückgängen.

Nach Berichten der Nachrichtenagentur ILNA (persisch) ging die Demonstration von rund 1200 Arbeitern der Entekhab-Gruppe vor der südkoreanischen Botschaft in Teheran zu Ende. Die Arbeiter hatten die Auszahlung von 70 Millionen Dollar erreichen wollen. Die Summe war der Entekhab-Gruppe zugesagt worden, nachdem Vertragsabschlüsse mit ihrer südkoreanischen Partnerfirma durch die Sanktionen zunichte gemacht worden waren.

Ein Streik von Lkw-Fahrern aus Protest gegen niedrige Löhne ging am vergangenen Donnerstag zu Ende. Infolge des Streiks, der am [vorausgegangenen] Mittwoch begonnen hatte, hatten sich aus Angst vor Engpässen lange Schlangen an iranischen Tankstellen gebildet.  Deutsche Welle (persisch) berichtet von einem weiteren Streik, mit dem 400 Arbeiter des Bonyan-Dieselwerks über 20 Tage lang gegen die Zwangsversetzung von Arbeitern in andere Städte der Provinz protestierten.

Zwangsrückführung afghanischer Einwanderer
Die Auswirkungen der gegen Iran verhängten Wirtschaftssanktionen weiten sich immer mehr aus. Radio Zamaneh (persisch) berichtet über die Rückführung von etwa 200 000 afghanischen Flüchtlingen in ihre Heimat innerhalb der letzten 6 Monate, von denen viele nicht dokumentiert waren. Gründe sind u. a. Arbeitslosigkeit, zu wenig Einkommen, hohe Preise und schulische Restriktionen für die Kinder.

Chancenungleichheit und weitere Verbote für Frauen
Im Global Gender Gap Bericht 2012 belegt Iran von insgesamt 135 Ländern den 127. Platz. Aus S. 206 des Berichts geht eine leichte Verbesserung der Situation von Frauen in den Bereichen Gesundheit und Bildung hervor, gleichzeitig werden jedoch große Unterschiede zum Männeranteil in den Bereichen Wirtschaftliche Partizipation und Chancen sowie Politische Teilhabe deutlich.

Jüngste Entwicklungen im Vorhaben der verstärkten Geschlechtertrennung meldet die Nachrichtenagentur Fars News (persisch): Lokale Bestimmungen schließen Frauen jetzt als Publikum bei Volleyball-Wettkämpfen aus.

Teheraner Symphonieorchester stellt Arbeit ein
Das Teheraner Symphonieorchester hat seine Arbeit eingestellt, nachdem die Gehälter für die Musiker nicht mehr gezahlt werden konnten. Der Nachrichtenagentur Mehr (persisch) zufolge sind die Aktivitäten des Orchesters jetzt auf Exklusivprogramme im Auftrag des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung begrenzt.

Film „Facing Mirrors“ läuft in Iran an
Der Film ‘Facing Mirrors’ von Negar Azarbaijani ist in iranischen Kinos angelaufen. Dieser Film ist der erste seiner Art [in Iran] und beleuchtet das Leben von Transsexuellen in Iran und ihre Probleme in der Gesellschaft.

Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Arseh Sevom

Eine Antwort zu “Nachrichten aus der iranischen Zivilgesellschaft – 30. Oktober 2012

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