Kurzmeldungen aus der iranischen Zivilgesellschaft – 23. April 2012

Arseh Sevom, 23. April 2012 – Es war letzte Woche schwer, sich nicht um den Zustand der Zivilgesellschaft in Iran zu sorgen. Die Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi wurde inhaftiert, Mansoureh Behkish von den Trauernden Müttern verurteilt, und der Kampf gegen Rede- und Informationsfreiheit geht weiter. Die einzige positive Nachricht war die über Workshops zu rechtlichen Fragen für Kinder, die in Teheran unter Jugendarrest stehen.

„Lasst meinen Bruder nicht sterben. Nicht noch einmal!“

„Stellen Sie sich vor, wie meiner Mutter zumute sein muss. Erst hat sie ihren ersten Sohn vor mehr als einem Jahr an die Gefängnisse der Islamischen Republik verloren, dann musste sie den Tod ihrer Tochter betrauern – am Tag, an dem wir zum Evin-Gefängnis gingen, um meinem zweiten Bruder Hamid Ghasemi zu sagen, dass ein Beamter uns die Bestätigung seines Todesurteils mitgeteilt hatte“, sagte Parvin Ghasemi in einem Interview mit der im Exil lebenden Journalistin Masih Alinejad. „Sie haben das Todesurteil gegen meinen Bruder auf der Grundlage fragwürdiger E-Mail-Ausdrucke gefällt.“

Alborz Ghasemi war 2008 im Zusammenhang mit Spionagevorwürfen verhaftet. Hamid Ghasemi – ein kanadischer Staatsbürger – hielt sich damals in Iran auf, um seine Familie zu besuchen. Er stellte Nachforschungen über die Verhaftung seines Bruders an und sprach mehrmals beim militärischen Geheimdienst vor, bevor er schließlich selbst mit identischen Vorwürfen konfrontiert und verhaftet wurde. Der Webseite Kalameh zufolge (Englische Übersetzung) waren die Beweismittel in beiden Fällen manipuliert. Alborz Ghasemi starb im Gefängnis.

Ghasemis Schwester zufolge haben die Justizbehörden den Anwalt ihres Bruders über das Urteil nicht informiert, bevor sie die Familie im Evin-Gefängnis darüber in Kenntnis setzten.

Die Schlacht um die Geisteswissenschaften

Immer wieder hat der oberste Führer Ayatollah Khamenei seinen Unmut über die Verbreitung dieser „westlichen Disziplinen“ zum Ausdruck gebracht. Letzte Woche griff Bildungsminister Kamran Daneshjou diese Standpunkte auf und  verurteilte die Geisteswissenschaften als „verderblich für die Moral und zerstörerisch für gesellschaftliche Werte.“

„Verzeihung – Ihr Studiengebiet ist übersättigt“

Nach Berichten der Teheraner Tageszeitung Jamejam hat Mohammad Reza Ameri, Leiter des Aufsichtsbüros im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Technologie, bekannt gegeben, dass „gemäß den Plänen für die höhere Bildung der Anteil der Studenten geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer auf 36 Prozent sinken muss […] da viele dieser Gebiete den Sättigungsgrad erreicht haben.“
In demselben Bericht heißt es,  45% aller Universitätsstudenten seien derzeit in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen immatrikuliert.

„IllegalE“ Bücher in Qom eingestampft

Das Ministerium für Führung und Islamische Kultur teilt mit, dass in Qom 6.386 „illegale“ Bücher entdeckt und eingestampft wurden. Qom ist Zentrum geistlicher Studien, Pilgerstadt und ein Zentrum für Druckerzeugnisse [„center for printing presses“]. Die eingestampften Bücher waren ohne offizielle Genehmigung gedruckt worden. Mehr über den Druck auf Verleger in Iran hier.

Neun Drogentote pro Tag

Der jüngste Bericht der iranischen Organisation für Forensische Medizin spricht von 3.593 Drogentoten im vergangenen iranischen Kalenderjahr – das entspricht fast 10 Toten pro Tag. Im Vergleich zum Vorjahr hat die Zahl der Drogentoten dem Bericht zufolge um 1,7 Prozent abgenommen.

Aktivistin wegen „Mitgliedschaft in einer Menschenrechtsgruppe“ inhaftiert

Narges Mohammadi, Aktivistin und stellvertretende Vorsitzende des iranischen Zentrums für den Schutz der Menschenrechte, wurde wegen „Sammlung von Informationen und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit, Mitgliedschaft im Zentrum für den Schutz der Menschenrechte und Propaganda gegen die Islamische Republik“ verhaftet worden.

Narges Mohammadis Ehemann, selbst ein ehemaliger Gewissensgefangener, musste das Land verlassen. Die beiden Kinder des Ehepaars sind nach Mohammadis Inhaftierung ohne Eltern.

Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte wurde von Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi gegründet.

Tendenz ins Ausland

Quds Online berichtet von boomenden Immobiliengeschäften im Nachbarland Türkei, angefacht von iranischen Käufern. Viele Iraner haben zunehmend Bedenken, ihr neues Haus in Iran zu kaufen. In Iran befindliche Quellen von Arseh Sevom sagen, dass viele Iraner sich vor „wirtschaftlicher Instabilität und einem drohenden Krieg“ fürchten. Ein Geschäftsmann sagte: „Es ist nicht nur die Türkei – wir sehen uns auch in anderen Ländern wie Armenien um“.

Kinder im Jugendarrest lernen ihre rechte kennen

Unicef berichtet von Workshops, die in einem Teheraner Erziehungs- und Rehabilitationszentrum für Minderjährige durchgeführt werden. Die Kinder sollen lernen, wie sie sich gegen Gewalt zur Wehr setzen und ihre Rechte wahrnehmen können. In Rollenspielen und Diskussionen lernen die Kinder, wie sie sich in verschiedenen Situationen – sexuelle Annäherungsversuche am Arbeitsplatz, Kinderarbeit und Gewalt in der Familie – verhalten können.

Die Workshops – ein Ergebnis des Berichts UN-Generalsekretärs über Gewalt gegen Kinder von 2006 – werden von Altersgenossen geleitet. Unicef:

„Es ist ein großer Unterschied, ob der Workshop von einem erwachsenen Experten von außerhalb geleitet wird oder von einer Person, die im selben Alter ist wie die Teilnehmerinnen“, sagt Zahara, die junge Moderatorin, selbst im Teenager-Alter. „Wenn  die Mädchen sehen, dass jemand wie sie – die das Leben im Zentrum selbst erfahren haben – mit ihnen über Gewalt spricht, fühlen sie sich sicherer und sprechen eher über ihre eigenen Erfahrungen.“

Internationales Tribunal, Trauernde Mütter

Mansoureh Behkish, eine Unterstützerin der Trauernden Mütter, wurde wegen „regimefeindlicher Propaganda“ und „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ zu 4,5 Jahren Haft verurteilt. Ihr Verbrechen: Sie hatte die Gräber ihrer Angehörigen besucht. Gegenüber der Webseite „International Campaign for Human Rights in Iran“ sagte sie:

„Ich habe nichts verbotenes getan. Ich habe auch zu meinen Befragern gesagt, dass jeder Mensch das Recht hat, jedes Grab zu besuchen, das er besuchen will, es gibt keine gesetzlich festgelegten Verbote dafür. Es ist mein mindestes Grundrecht als Bürgerin, zu entscheiden, wessen Grab ich besuche, und ich werde dieses Recht nicht aufgeben. Sie wissen selbst, dass das, was ich tue, nicht gegen das Gesetz verstößt, aber leider konstruieren sie in Iran [viele] Fälle gegen Personen.“

Die Gräber, die Behkhish besucht hatte, waren die ihrer Geschwister, die in den 1980er Jahren hingerichtet wurden. In dem folgenden Video vom Dezember 2011 spricht Behkishs 91jährige Mutter über die Hinrichtung ihrer vier Söhne und ihres Schwiegersohns. Sie fragt: Warum wurden sie hingerichtet? Warum hat die UN nichts getan? Warum hat die UN über die Hinrichtung meiner Kinder nie gesprochen? „Wir sind Muslime. Sie sind Muslime. Wenn Muslime uns so viel antun, dann…“

Diese Aussage ist jetzt Bestandteil des „Iran Tribunal„, dass die Massenhinrichtungen der 1980er Jahre ins Bewusstsein bringen will. Für den Juni dieses Jahres sind „gerichtliche Anhörungen“ geplant.

In den 1980er Jahren verschwanden etwa 20.000 Dissidenten. 5.000 von ihnen wurden bestätigtermaßen hingerichtet.

ICT wirbt Personal für „Lokalisierung des Internets“ an

Letzte Woche hatte Arseh Sevom über das iranische nationale Internetprojekt berichtet und Empfehlungen gegeben. Nun gibt es bei der Umsetzung neue Entwicklungen: das iranische Ministerium für ICT [vermutlich etwas wie „Internet- und Kommunikationstechnologie“, d. Übers.] hat inländische Spezialisten zur Abgabe von Bewerbungen für die Teilnahme an „der Lokalisierung von Telekommunikationstechnologien“ aufgefordert. Abgabefrist war der 19. April. Wahrscheinlich werden die eingegangenen Bewerbungen zur Zeit gesichtet.

Mehr Informationen darüber gibt es bei der Electronic Frontier Foundation.

Bestandsaufnahme über Verhaftungen in Khuzestan – Press TV ist dabei

Human Rights Watch berichtete über die Verhaftung arabischer Aktivisten in Khuzestan im letzten Jahr. Viele der Aktivisten werden noch immer ohne Anklage festgehalten. Die Webseite „Justice for Iran“ berichtete nun, dass der englischsprachige iranische Fernsehsender PressTV die verhafteten Personen als Terroristen präsentiert habe. Die Angehörigen der Verhafteten wissen nicht einmal, wo diese festgehalten werden. Die Gefangenen dürfen sich keinen Rechtsbeistand nehmen. Press TV setzt sich nun über die iranischen Gesetze gegen Verleumdung hinweg und agiert als Richter, Geschworene und Vollstrecker gleichzeitig.

Der Journalist Maziar Bahari, der 2009 100 Tage in einem iranischen Gefängnis verbrachte, berichtet, dass Journalisten von Press TV bei seinen Verhören zugegen waren.
[siehe auch: Bericht bei Justice for Iran, auf Deutsch: Arshama3 d. Übers.]

Tote Tiger oder lebende Geparden – das ist hier die Frage

Der Bericht über Versuche, den Kaspischen Tiger (Mazandaran-Tiger, Panthera tigris virgata) wieder zum Leben zu erwecken, hat in Iran Kontroversen ausgelöst. Abgeordnete melden Bedenken hinsichtlich des Umweltschutzes und dem Wohlergehen von erfolgreich aus diesem Experiment hervorgegangenen Tigern an. Bei einem ähnlichen Versuch waren zwei aus Russland nach Iran importierte Tigermännchen 8 Monate nach ihrer Ankunft 2010 gestorben.

Umweltschützern zufolge müsse man sich lieber darauf konzentrieren, die alarmierend zurückgegangene Population der iranischen Geparden (Acinonyx jubatus venaticu) zu erhalten, als eine bereits ausgestorbene Rasse wieder zu beleben.

2010 hatte Russland ein Tigerpärchen gegen ein Pärchen iranischer Geparden getauscht. Hoffentlich geht die Geschichte dieses Mal besser aus – nicht nur für die Tiger.

Hunde verhaftet

Weitere Nachrichten aus dem Tierreich: Die iranische Polizei hat wieder Hunde verhaftet. Viele Geistliche bezeichnen das Halten von Hunden als „unislamisch“ und beziehen sich dabei vor allem auf kurzbeinige Rassen, die keine Arbeitstiere sind.

Fred Petrossian schreibt bei Global Voices:

„Die iranische Regierung findet, dass das Halten von Hunden unislamisch ist, hat es aber weitgehend toleriert. Dass Hunde jetzt wieder mehr offiziellen Unwillen erwecken, kann daran liegen, dass die Menschen, die sich am ehesten einen Hund als Haustier zulegen, der urbanen und gebildeten iranischen Jugend entstammen.“

Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Arseh Sevom

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