Interview mit Shiva Nazar Ahari Teil 1, 2 und 3

Veröffentlicht auf Persian2English am 24. Dezember 2009
Quelle (Persisch): YouTube
Übersetzung Persisch-Englisch: Tour Irani für Persian2English
Quelle (Englisch): http://persian2english.wordpress.com/2009/12/24/shiva-nazar-ahari-interview-translated-part-1-and-2/
Deutsche Übersetzung: Julia (bei Weiterveröffentlichung bitte Link zu diesem Post angeben)


(Anm. d. Hrsg.: Dieses Interview wurde vor Shivas letzter Verhaftung gemacht. Zur Zeit ist Shiva Nazar Ahari in Haft, und es gibt keine Informationen über ihren Zustand oder Einzelheiten ihrer Verhaftung)





Übersetzung des Videos:
Sie kamen am 13. Juni um 1 Uhr morgens, um mich zu verhaften. Ich wusste nicht, dass sie schon so viele Leute verhaftet hatten. Als sie zu mir nach Hause kamen, war ich nicht da. Sie nahmen einige meiner Sachen mit und sagten meiner Familie, dass ich zum Verhör kommen müsse. Am 14. Juni ging ich zur Arbeit, und sie kamen und verhafteten mich an meinem Arbeitsplatz. Die wenigen Stunden des Verhörs dauerten 102 Tage. Ich war in Abteilung 209 von Evin. Schließlich wurde ich gegen eine Kaution von 200.000 $ freigelassen.

Ich wurde für das, was ich geschrieben habe, oft verwarnt, besonders in der Einzelhaft. Ich benutzte das scharfe Ende einer Zahnpastatube, um auf die Wände zu schreiben. Es war verboten, auf die Zellenwände zu schreiben. Jedes Mal, wenn ich das tat, verlegten sie mich in eine neue Zelle und zwangen mich, mit einem nassen Tuch zurück in die alte Zelle zu gehen und alles abzuwischen.

Interviewer: Shiva, fühlen Sie sich jetzt frei?”

Shiva: Nein.

Interviewer: Aber Sie sind frei! Sie bewegen sich frei in der Natur.

Shiva: Es fühlt sich nicht gut an. Als ich im Gefängnis war, war ich eine Gefangene, die Härten aushalten musste. Als ich frei kam, fing ich an zu denken, dass es drinnen einfacher war. Vorher dachte ich, wenn ich frei bin, werde ich wieder mit meinen Freunden zusammen sein. Aber jetzt, wo ich draußen bin, sind viele nicht mehr da. Viele werden immer wieder verhaftet und gehen zurück ins Gefängnis. Wir alle haben vor der Wahl viele Nächte und Tage miteinander verbracht. Wir haben auch zusammen demonstriert. Es geht mir schlechter, wenn ich realisiere, dass meine Freunde immer noch im Gefängnis sind. Ich fühle mich hilflos.
Im Gefängnis war es einfacher, weil ich mich als Gefangene empfand. Es gab nichts, was ich dort tun konnte, aber zumindest war ich den anderen nahe. Wenn ich sie hin und wieder in der Halle sah, was das ein wunderbares Gefühl. Ich glaube, viele Gefangene waren wie ich. Wir warteten die ganze Woche auf die zwanzig Minuten Besuchszeit. Wir waren nicht so aufgeregt wegen des Wiedersehens mit unseren Angehörigen, den wir begegneten ja einander und anderen Gefangenen. Wir trafen auch die Angehörigen anderer Gefangener. Es war ein tolles Gefühl, trotz aller Härten.

Jetzt empfinde ich die Freiheit als nicht so reizvoll. Ich werde mich erst dann wirklich frei fühlen, wenn ich weiß, dass die anderen aus dem Gefängnis freigelassen sind. Vielleicht wird das Gefühl dann besser. Aber jetzt nicht. Es ist ein furchtbares Gefühl, draußen zu sein, während Menschen wie Atefeh, Shabnam und Abdollah Momeni immer noch dort sind. Wir sind alle zusammen ins Gefängnis gegangen, aber sie sind nicht frei, sie können nicht im Park spazierengehen. Sie sind immer noch in ihren Zellen. Das ist kein gutes Gefühl. Überhaupt nicht.

[In ihrem Büro]

Dies hier habe ich zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Sie waren für meine Kollegen sehr interessant, weil sie sie an mich erinnert haben. Sie haben sie nicht angerührt, bis ich freikam.

Interviewer: Das bedeutet wohl, dass Sie nicht gefeuert wurden.

Shiva: Ja, meine Schwester arbeitet hier. Und wenn ich zu Hause anrief, erzählte sie mir, dass meine Gedichte nicht angerührt wurden. Das bedeutete, dass sie an mich dachten und mich nicht rausgeworfen hatten. Das war ein gutes Gefühl. Denn viele Gefangene sind in ständiger Sorge um ihren Arbeitsplatz und wissen nicht, ob sie einen neuen finden werden. Ich zumindest hatte diese Sorgen nicht. Und dieser Kalender hier zeigt die Tage, die ich zähle, seit meine Freunde verhaftet wurden.

Interviewer: Haben Sie jemals gedacht, dass all diese Arbeit zu nichts führt? Dass sie [Zeit-]Verschwendung ist? Wo Sie doch immerhin dafür ins Gefängnis gegangen sind?

Shiva: Sie meinen, ich sollte das Land verlassen? Nun ja, diesen Gedanken hat wohl jeder. Wir alle denken darüber nach, besonders in dieser Situation. Man ist aus dem Gefängnis gekommen und wartet auf den Gerichtstermin. Man weiß nicht, was geschehen wird. Man muss die Tatsache akzeptieren, dass Aktivismus hier seinen Preis hat. Da ist das Gefängnis, Verhaftungen, und all die anderen Faktoren, die damit einhergehen.
Aber ich habe mich entschieden, zu bleiben, egal welchen Preis ich dafür zahlen muss. Ich versuche mein bestes, um zu bleiben. Wie lange ich so weitermachen kann, weiß ich nicht, aber ich werde mein bestes versuchen, um hier zu bleiben. Ich denke, wir alle müssen bleiben, ungeachtet des Preises, den wir zahlen, und der Härten. Viele sagen mir, dass die Menschenrechtsarbeit im Ausland viel einfacher sein, aber ich glaube, dass wir genau hier am meisten bewirken können [Anm. d. Übers.: der englische Text benutzt hier und im folgenden Satz das Wort „affective“, was in diesem Zusammenhang weniger Sinn ergibt als „effective“ – möglicherweise ein schlichter Tippfehler in der englischen Quelle]
Außerhalb des Landes können wir nicht so viel bewirken. Ich wäre möglicherweise in der Lage, an ein paar Zusammenkünften teilzunehmen und zu verschiedenen Organisationen zu gehen und mir einen Namen zu machen, aber das würde vom Ausland aus nicht so viel bewirken wie von hier aus. Ich würde nicht die Rolle spielen können, die ich hier spiele.

Ich glaube, unsere Aufgabe hier richtet sich danach, dass viele Menschen hier unsere Hilfe brauchen. Zum Beispiel brauchen die Familien von politischen Gefangenen uns. Viele Häftlinge sagen uns, dass wir ihre einzige Hoffnung sind, wenn wir rauskommen. Natürlich bin ich nicht so mächtig, wie viele Gefangene glauben. Aber wenn ich das Land verlassen würde, hätten sie nicht einmal mehr diese kleine Hoffnung. Außerdem ist dies unser Land. Wer wird noch hier sein, wenn wir alle gehen?

Interviewer: Wenn Sie aus dem Gefängnis gekommen wären und festgestellt hätten, dass Sie Ihren Job verloren haben – würden Sie dasselbe sagen?

Shiva: Natürlich! Jedes Mal, wenn ich zu Hause angerufen habe, habe ich gefragt, ob ich schon entlassen bin. Wenn man arbeitet, muss man bereit sein, den Preis zu zahlen. Ich habe mich der Situation vollkommen angepasst. In meiner Studentenzeit war ich etwas konservativer, vor allem, weil ich hohe Studiengebüren bezahlen musste. Also habe ich zeitweise etwas weniger gemacht, um wenigstens meine Schule beenden zu können. Ich habe mich immer gefragt, ob ich genau so sein würde, wenn ich die Schule beendet haben und berufstätig sein würde. Aber dann habe ich gemerkt, dass Arbeit für mich nicht so wichtig ist. Ich bin bereit dafür, entlassen zu werden. Es ist in Ordnung, wenn ich keine Arbeit habe, so lange ich meine Aktivitäten fortsetze.


Interviewer: Warum ist Atefeh Ihnen so wichtigl?

Shiva: Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wegen der gemeinsamen Erfahrungen im Gefängnis, Gemeinsamkeiten, die wir beide erlebt haben. Es gab einen Vorfall im Gefängnis, über den ich geschrieben habe. Sie haben von uns verlangt, in den Verhören gegeneinander auszusagen. Es war sehr schwer für mich. Ihr Name tauchte in all meinen Verhören auf. Bevor ich verhaftet wurde, kannte ich Atefeh nicht. Als diese Jungs verhaftet wurden, war Zia Nabavi ein Student, der zum „Ausschluss aus der Universität vorgemerkt“ war. Ein Kollege hatte mir erzählt, dass sieben von ihnen zusammen verhaftet worden waren, und Atefeh war eine von ihnen. Und wegen Zia wurde auch Atefeh wichtig für mich. Ich hörte, dass Atefeh misshandelt worden war, bevor sie ins Gefängnis gebracht wurde. Nun ja, ich habe versucht, alle zu verteidigen [lacht].

Einmal brachten sie das Thema bei einem meiner Verhöre zur Sprache. Es dauerte mehrere Stunden. Ich muss jetzt nicht ins Detail gehen, aber sie brachten Atefeh herein, um uns miteinander zu konfrontieren. Sie zwangen sie, meine Vorwürfe zurückzuweisen, es war eine sehr schwierige Situation, und ein sehr schwieriges Verhör für mich. Sie brachten Atefeh herein. Sie stand hinter mir, und ich saß mit dem Gesicht zur Wand auf einem Stuhl und schrieb Dinge auf. Er sagte mir dann, ich sollte mich umdrehen und Atefeh ansehen und ihr von den Vorwürfen zu erzählen, die ich gegen sie erhoben hätte. Ich versuchte, die Situation zu beruhigen. Es war eine furchtbare Situation. Sie brüllten herum. Ich sagte zu ihr: „Ich habe gehört, dass du einige unmoralische Handlungen erdulden musstest, bevor du ins Gefängnis gebracht wurdest.“

Dann brüllte einer der Befrager: „Sag klar und deutlich, was für unmoralische Handlungen du meinst!“ [Anm. d. Übers.: Ich habe überall die Du-Anrede gewählt, auch wenn ich sie nicht an allen Stellen des Videos heraushören kann]

Ich sagte „Ich kenne die Einzelheiten nicht. Ich habe es gehört, und ich sage hier nur, was ich gehört habe. Ich habe gehört, dass ihr unmoralische Angebote gemacht wurden.”

Ich hatte das Gefühl, dass Atefehs Stimme zitterte, als sie sagte „Nein, so war das ganz und gar nicht“.

Es war eine schwierige Situation. Ich hatte über ihre Notlage gesprochen, und jetzt stritt sie es ab, während zwei Leute über uns herumbrüllten. Ich sagte zu Atefeh: „Ich hoffe, dass diese Behauptungen nicht wahr sind, und ich bin froh, dass sie nicht wahr sind. Aber das ist, was ich gehört habe.“

Daraufhin schrie einer der Befrager, der gesagt hatte, dass er von Abteilung 209 war: „Hör auf, solchen Mist zu erzählen, du dreckiges Stück Müll.“ Ich widersprach und sagte „Was für eine Sprache ist das? Bitte seien Sie höflich.“

Der andere Befrager sagte immer wieder zu Atefeh: „Du musst Anklage gegen diese Frau erheben, weil sie falsche Behauptungen aufgestellt hat.“

Atefeh sagte immer wieder „Ich habe keine Anklage gegen sie. Wie kann ich Anklage gegen eine andere Gefangene erheben?“

Sie brachten sie in einen anderen Verhörraum, und ich konnte hören, wie sie sie anschrieen.


Als sie Atefeh vor Gericht stellten, war der Richter nicht gerade nett zu ihr. Atefeh rief mich aus der allgemeinen Haftanstalt [„general detention center“] an und sagte, dass der Richter vollkommen voreingenommen gegen sie sei, und sie sagte, dass das Gerichtsverfahren unangenehm sei. Sie hatte das Gefühl, dass der Richter seine eigenen voreingenommenen Ansichten in den Fall projizierte. Vor dem Hintergrund der harten Strafen, die aus den Gerichtsverfahren hervorgingen, war ich sehr besorgt um Atefeh, besonders, weil das Geheimdienstministerium wegen ihrer familiären Verbindungen sehr sensibel auf ihren Fall reagierte. Ich befürchtete eine harte Strafe, und es kam so: Vier Jahre Gefängnis auf Bewährung. Der wichtige Punkt ist, dass sie von der Anklage der Verbindungen mit der Organisation freigesprochen wurde. Sie wurde nur für schuldig befunden, an den Demonstrationen vom 4. Juli teilgenommen zu haben. Das war das einzige, das sie gestanden hatte.

Sie wurde wegen „Handlungen gegen den Staat“ und „Propaganda gegen das Regime“ zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Es ist interessant. An dem Tag, an dem wir die Nachricht über ihr Urteil verkündeten, stellte ich fest, dass viele Nachrichtenorganisationen nur flüchtig darüber berichteten, während andere Urteile, wie Abtahis sechsjährige Haftstrafe, fett gedruckt aufgemacht wurden. Und ich fand, dass wir etwas für sie tun müssen, besonders, weil ihre Familie nichts mit Protesten und Medienarbeit zu tun hatte.

Wir beschlossen, eine Kampagne namens „Ich bin Atefeh“ [mehr] zu starten und alle, die nach der Wahl verhaftet worden waren, und auch alle, die Zweifel an den Wahlergebnissen hatten, einige Zeilen an die Justiz zu schreiben. Selbst die, die etwas mit ihrem Urteil zu tun hatten und mit ihr sympathisieren, können einen Brief schreiben. Wenn sie zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wird, weil sie am Wahlergebnis zweifelt und weil sie protestiert hat, dann sollten wir alle im Gefängnis sein.
Wir haben diese Kampagne gestartet, um zu verdeutlichen, dass dies eine ernste Angelegenheit ist. Besonders für internationale Organisationen, die denen, die nicht berühmt sind, weniger Aufmerksamkeit schenken. Wir wollten ihre Aufmerksamkeit auf Atefeh und andere wie sie lenken, die im Gefängnis sind und die zu schweren Strafen verurteilt werden könnten, nur weil niemand ihnen Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Ich denke, die Kampagne läuft gut. Wir haben erst vor zwei Tagen angefangen, aber es ist viel über Atefeh geschrieben worden. Wir planen, die Briefe an die Staatsanwaltschaft und an das Parlament zu schicken, damit sie wissen, welche Art von Urteilen vom Revolutionsgericht gefällt wird. Wir werden tun, was wir können, damit das Berufungsgericht diesen Fall von einer juristischen Perspektive betrachten kann, nicht von politischer oder geheimdienstlicher Perspektive. Wir hoffen auf die Freilassung von Atefeh.